Einordnung der Leipziger Wächterhäuser

  • Einordnung der Leipziger Wächterhäuser

    Hallo liebes Forum,


    ich wohne hier in einem ehemaligen Wächterhaus mit immer noch regem Austausch aller Nachbarn untereinander. Ich denke meine Nachbarschaft definiert sich immer noch stark als "entlassenes Wächterhaus". Wir wurde gebeten ein Selbstverständnis zu formulieren und haben das zum Anlass genommen uns darüber als Nachbarn aus zu tauschen. Es stellt sich dabei unter anderem die Frage wie das Konzept Leipziger Wächterhaus mittlerweile bewertet wird. Ich meine damit vor allem die Wächterhäuser die bis 2010 entstanden sind und mittlerweile "entlassen" wurden. Wenn man überhaupt über alle Leipziger Wächterhauser zusammen sprechen möchte: wie wichtig waren Sie für die Entwicklung bestimmter Stadtteile und wie ist das Konzept rückblickend zu bewerten? Hatten Sie über die Akteure (Besitzer, Haushalten eV., Bewohner) hinaus Bedeutung und Folgen?


    Es gibt mittlerweile eine erste Fassung des Selbstverständnisses. Vielleicht hat ja hier jemand Lust diese zu kommentieren oder findet eine falsche Behauptung. Es ist noch kein Selbstverständnis, auf das wir uns zusammen geeinigt haben, deswegen hier in dieser anonymisierten Form.



    Entlassenes Wächterhaus im Leipziger Osten

    Das Gründerzeithaus ... wurde 1897 gebaut. Ein halbes Jahrhundert später wurden die Immobilie durch das SED-Regime enteignet und ging im Zuge der Wiedervereinigung an die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH (LWB) über. 20.. erfolgte nach langwierigen Verhandlungen die [durch … geforderte/vorgesehene] Rückübertragung an die Erben der sechs Jahrzehnte zuvor enteigneten Besitzer, einer in der Schweiz, Finnland und Deutschland lebenden Familie.


    Stagnation und Verfall der Immobilienpreise prägten den deutschen Immobilienmarkt für ein gutes Jahrzehnt nach Abflauen des Wiedervereinigungs-Booms ab 1994. Attraktive steuerliche Abschreibungsbedingungen hatten zu massiven Investitionen und infolgedessen zu einer Überkapazität vor allem bei Büroimmobilien und Mehrfamilienhäusern in ostdeutschen Städten geführt. Der unter anderem in Leipzig aktive Bauunternehmer und Milliardenpleitier Jürgen Schneider war nur einer von vielen Immobilienbesitzern, für die sich nach der Wiedervereinigung gehegte Wachstumshoffnungen in den neuen Bundesländern nicht erfüllten. Eigentümer von unsanierten denkmalgeschützten Altbaumehrfamilienhäusern in Ostdeutschland hatten zu diesem Zeitpunkt allen Grund, mit weiteren Investitionen zurückhaltend zu sein. In Volkmarsdorf stand zu dieser Zeit etwa ein Viertel aller Wohnhäuser und über ein Drittel aller Wohnungen leer, weniger als ein Prozent aller Häuser wurden von Ihren Besitzern bewohnt. Das Haus … war beispielhaft für diese Entwicklungen.


    Außergewöhnlich für ein leerstehendes, von Verfall und Vandalismus bedrohtes Haus im Leipziger Osten war, dass die Besitzergemeinschaft 2005 (?) durch einen Spiegel-Artikel auf das durch Haushalten e.V. initiierte Leipziger Wächterhausprojekt aufmerksam wurde und darin die Möglichkeit sah, in das seit ungefähr 5 Jahren leerstehende Haus wieder Leben zu bringen. Leipziger Wächterhauser waren ein Nutzungskonzept für leerstehende Immobilien, in denen auf der Grundlage besonderer vertraglicher Vereinbarung Nutzer einziehen können, die sich im Tausch gegen Wohn- und/oder anderweitige Nutzungsmöglichkeiten zum Erhalt bzw. zur Sanierung des Gebäudes verpflichteten.


    Im Mai 2007 wurde die Gestattungsvereinbarung unterzeichnet, Ende August 2007 konnte die Nutzergruppe mit dem Herrichten der Räume beginnen. Insbesondere Nutzern wie Vereinen, Künstlern, Existenzgründern sollte in Wächterhäusern “die Möglichkeit gegeben werden, das Gebäude mit eigener Initiative zu „bespielen“ oder anderweitig, [], zu nutzen und damit zu erhalten, zumindest aber den weiteren Verfall der Substanz zu verzögern und damit als „Hauswächter“ zu agieren.” (http://www.haushalten.org/pape…rtrag_Gestattung_Haus.pdf). Um nicht durch das Anbieten von konkurrenzlos günstigem kommunal subventionierten Wohnraums offen in einen Wettbewerb mit der hochverschuldeten LWB und privaten Eigentümern zu treten und um einen juristischen Raum abseits dessen zu schaffen, was den Vorgaben des Mietrechts unterlag, war Wohnen während der Wächterhauszeit laut Nutzungsvereinbarung explizit nicht gestattet. Das Nichteinhalten dieser Vereinbarung in quasi allen Leipziger Wächterhäusern wurde aber nicht sanktioniert. Vielleicht nicht zuletzt durch die Hoffnung auf eine langfristige Aufwertung des LWB-eigenen Immobilienbestandes in Leerstands-geprägten Wohnvierteln und das damalige Bestreben der Stadt Leipzig den städtischen Mietspiegel anzuheben und Privatinvestitionen in Bausubstanz attraktiver zu machen. So entstanden in dem Haus ... neben einem Clubraum, der für ein Nachbarschaftskino und Konzerte genutzt wurde und wird, vor allem auch neu bewohnbare Wohnungen.


    Laut Haushalten e.V: wurde die Idee für Wächterhäuser “geboren, als eine Gegenstrategie der Stadtentwicklung zur drohenden Verwahrlosung im Zuge der grassierenden Schrumpfungsprozesses nach der Wende und friedlichen Revolution in der DDR mit massiven Immobilien-Leerständen.“
    (http://www.haushalten.org/de/kommune.asp). Ein Institutionalisierung des Konzepts Nutzern anstelle von regulären Mietern leerstehenden Wohnraum zeitlich begrenzt zum Gebrauch zu überlassen, gibt es aber schon länger. ZB. mit Antikraak in den Niederlanden. Dort entstand es als Reaktion auf eine Ende der 1960er Jahre größer werdende Hausbesetzerszene. Die 1993 ebenfalls in den Niederlanden gegründete Firma Camelot Beheer BV, mit aktuell 18 Büros in ganz Europa, auch in Deutschland, und nach eigenen Angaben mit über 4000 verwalteten Objekten, bietet als Kernkompetenz “Leerstandsmanagement” an und preist den Hauswächter als “ideale Lösung für dieses Problem: Preiswerter und abenteuerlicher Wohnraum als Alternative zur klassischen Wohnung gegen geringe Gebühr als Hauswächter.“ (https://de.cameloteurope.com/objektschutz/hauswaechter) Überlassung von Wohnraum anstelle eines regulären Mietverhältnisses als Geschäftsmodell, dies kann auch kritisch gesehen werden - zB. als Aushöhlung von bestehendem Mietrecht. Durch den Verein Haushalten e.V. hätte so zB. das Nutzungsverhältnis jederzeit mit einer Frist von drei Monaten, gekündigt werden können. Doch dazu kam es nicht - Nutzer und Besitzer standen während der gesamten Wächterhauszeit in engem Kontakt und die Herausforderungen dieser Periode konnten einvernehmlich bewältigt werden. Nach fünf Jahren wurde das Haus im Juli 2012 entlassen und ein gemeinschaftlicher Mietvertrag unterschrieben.


    Die Konditionen für die Mieter des Hauses ... ändern sich seitdem nur langsam. Mittlerweile ist das Haus teilsaniert und der Mietvertrag sieht das Anheben der Miete bis auf das ortsübliche Niveau vor. Noch befindet diese sich mit 2,80€/qm Kaltmiete aber auf sehr niedrigem Niveau. Zwei Eigentumswohnungen wurden an ehemalige Hauswächter verkauft. Das Dachgeschoss wurde ausgebaut und damit neuer, hochwertigerer Wohnraum geschaffen, der auch teurer vermietet wird. Die ehemaligen Hauswächter sind zum Teil im Haus verblieben, zum Teil sind neue Nachbarn eingezogen. Gute nachbarschaftliche Beziehung bestehen nach wie vor. Im juristischen Sinn institutionalisiert wurden diese jedoch nicht.


    In der Zukunft gilt es einen Generationenwechsel auf Seiten der Besitzergemeinschaft zu bewältigen. Viel vermittelt werden muss nach wie vor bei sich verändernden Interessen, Familienverhältnisse und Platzbedürfnissen der Bewohner, einem Auseinandergehen der Einkommensverhältnisse und unterschiedlichen Interessen von Mietern und Besitzern. Nach wie vor zeigen alle Mitglieder der Besitzergemeinschaft glücklicherweise ein sehr konservatives Risikomanagement und großen persönlichen Einsatz. Vor allem auch darin die unterschiedlichen Bedürfnisse im Haus gut ab zu stimmen. Bei allen obigen kritischen Punkten - was auf dem Bereich geleistet wird und wurde ist für ein Mietshaus außergewöhnlich.




    Edit: Der Vergleich mit Antikraak hinkt meiner Meinung nach ein wenig, denn anders als in Leipzig Anfang der 2000er gab es in niederländischen Großstädten in den 60ern, aber auch heute kein Überangebot an Wohnraum.

  • Niemand ein Kommentar oder eine Meinung? Ist das Thema so durch? Der Fall zu speziell/privat? Na immerhin scheint es in dem Text dann auch keine groben Falschaussagen zu geben.

  • Klang für mich wie ein Resümee.


    Wenn das Projekt dazu beigetragen hat, für das Stadtbild bedeutsame Gebäude zu erhalten, kann ich das nur begrüßen. Wichtig erscheint mir im jeden Fall die gegenseitige Vertrauensbasis. Wenn der oder die Eigentümer so einer Nutzung zustimmen, müssen sie die Gewissheit haben, sich am Ende keine verkappten Besetzer ins Haus zu holen, die man hernach womöglich mit langwierigen Prozessen rausklagen muss. Die absehbare Endlichkeit dieser Nutzungsart ist ein weiterer Aspekt. Denn irgendwann braucht jedes Haus eine grundlegende Sanierung, was wiederum refinanziert werden muss.