in memoriam: Turmcenter oder das "kleine" Selmi-Hochhaus

  • in memoriam: Turmcenter oder das "kleine" Selmi-Hochhaus

    Die bevorstehende Wiedereröffnung des Hochhauses Eschersheimer Landstraße 14, Ecke Querstraße, ist Anlass für einen kleinen Rückblick. Wir schauen in die Zeit der Errichtung, die in den einschlägigen Verzeichnissen mit 1969 – 1971 angegeben wird. Was heute als Turmcenter bezeichnet wird, war von seinem Bauherrn zunächst als Persien-Haus projektiert, nach seiner Eröffnung Selmi-Hochhaus genannt worden, bis ein paar Jahre später das Hochhaus am Platz der Republik diesen Titel übernahm.


    Zum Standort des Hochhauses enthält der gültige B-Plan aus dem Jahr 1969, er gilt bis heute, u.a. diese Festsetzungen:
    Mischgebiet MK
    GRZ 0,6
    GFZ 2,0
    4 Vollgeschosse
    um 8 m zurückspringende Baugrenze an der Eschersheimer Landstraße


    Gebaut und genehmigt wurden jedoch:
    GRZ 0,71
    GFZ 7,06
    22 Vollgeschosse und
    die Überschreitung der Baugrenze an der Eschersheimer Ldstr. (wurde aber zunächst nicht ausgeführt)



    Copyright: Stadtplanungsamt Frankfurt am Main


    Die Stadt hatte demnach (zum wiederholten Mal) ein Hochhaus genehmigt, das an dieser Stelle bauplanungsrechtlich unzulässig war. Auffällig ist, dass die Baugenehmigung erst 1974, also 2-3 Jahre nach Fertigstellung des Gebäudes erteilt wurde. Vielleicht war es Ausdruck eines speziellen Verständnisses von Baurecht, das damals bei Magistrat und Bauaufsicht vorherrschte, vielleicht hing es in diesem Fall auch nur mit der Person des Bauherrn zusammen, dem persischen Kaufmann (manche sagten Teppichhändler) und späteren Bankier Ali Selmi.


    Die Gebrüder Selmi waren in den 50er Jahren durch eine in ihrer Branche in Deutschland neuartige Vertriebsmethode zu erheblichem Reichtum gekommen, dem Teppichhandel durch Haustürverkauf. Der seit 1952 in Frankfurt tätige Ali Selmi war später eine der umstrittenen Figuren im Frankfurter Häuserkampf. Den Gebrüdern Selmi gehörten einige der besonders umkämpften Adressen im Westend, u.a. die Bockenheimer Ldstr.93 oder das 1971 besetzte, kurz darauf geräumte und dann in demoliertem Zustand lange Zeit leer stehende Haus Grüneburgweg 113.


    Das Hochhaus an der Eschersheimer Landstraße war von 1972 bis zu ihrer Schließung im Jahr 1976 Sitz der im Dezember 1968 gegründeten Selmi-Bank AG. 1968 wurde Ali Selmi Vorstand der von ihm gegründeten Selmi-Bank AG, die nach der Pleite der Kölner Herstatt-Bank im Juni 1974 ebenfalls in Schwierigkeiten geriet. Da ihre Rekapitalisierung misslang, gab die Bank ihre Lizenz zurück und beantragte 1975 die Liquidation. Vielleicht hat sie damit nur die Schließung durch die Bankenaufsicht vermieden, denn ins Gerede war die Bank auch wegen illegaler Auslandsgeschäfte mit Wertpapieren, u.a. mit Luxemburg und der DDR gekommen. Nach der Wende wurde bekannt, dass die Selmi-Bank gute Geschäfte mit den Firmen des Stasi-Bevollmächtigten Schalck-Golodkowski getätigt hatte. Wegen illegaler und betrügerischer Wertpapiergeschäfte sind später in einem jahrelangen Wirtschaftsstrafverfahren einige Vorstandsmitglieder der Selmi-Bank (Selmi selbst hatte damit nichts zu tun) zu hohen Haft- bzw. Geldstrafen verurteilt worden. Das Urteil wurde allerdings nicht rechtskräftig, denn der Prozess endete – dies nur am Rande – in einer schlimmen Justizaffäre: der BGH stellte das Revisionsverfahren der Verurteilten 1988 ein, nachdem es der Frankfurter Justiz über sechs Jahre nicht gelungen war, die Prozessakten dem BGH in Karlsruhe vorzulegen.


    Ali Selmi war fraglos eine schillernde Figur, mit bekanntermaßen allerbesten Beziehungen zur hessischen SPD und zum Magistrat, weshalb sein Name auch wiederholt im Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen gegen Beamte der Bauaufsicht und SPD-Magistratsmitglieder auftauchte.


    Mit seinen Immobiliengeschäften hatte er nicht nur Glück, das „große“ Selmi-Hochhaus am Platz der Republik konnte er bekanntlich nicht vermieten und hat es schließlich nach über zwei Jahren Leerstand Anfang 1977 an die Zentralbank der Volks- und Raiffeisenbanken, die heutige DG-Bank verkauft.


    Auch das "kleine" Selmi-Hochhaus sollte brennen


    Am 3.5.1972 geriet das „kleine“ Selmi-Hochhaus erstmals in die Schlagzeilen der Lokalpresse: „Hochhaus sollte brennen, Anschlag von der Polizei in letzter Minute verhindert“ titelte die FAZ. Von einer wachsamen Nachbarin seien fünf junge Leute dabei gestört worden, wie sie in der Nacht auf den 2. Mai 1972 in einem benachbarten Hof aus einem Citroen Benzinkanister, Molotowcocktails und zwei Dutzend Pflastersteine entluden. Beim Eintreffen der Polizei, waren die Täter längst über alle Berge. Als kurze Zeit später wieder einige Personen erschienen, um die Tatwerkzeuge abzutransportieren, wurden sie, heftig Widerstand leistend, in einem benachbarten Hof festgenommen, zwei minderjährige Frauen und drei junge Männer zwischen 21 und 24 mit Wohnsitz im besetzten Haus Corneliusstraße 24; zum Vorwurf der versuchten Brandstiftung schwiegen sie beharrlich. Der gegen die drei Verdächtigen beantragte Haftbefehl wurde vom Amtsgericht nicht erlassen.


    Ende 1973 wurde vor einer Großen Strafkammer in Frankfurt über die Anklage wegen Verabredung zur Brandstiftung gegen drei Angeklagte verhandelt. Der Prozess endete mit einer Verurteilung von zwei Angeklagten wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt (hatten sich gegen ihre Festnahme gewehrt); ein Verfahren wurde eingestellt. Es war dunkel damals, die Zeugin hat eigentlich nicht viel gesehen, andere Zeugen konnten nicht geladen werden und so dürften die Angeklagten und ihr Verteidiger Rupert von Plottnitz nicht unzufrieden gewesen sein (damals war die Mehrfachverteidigung noch zulässig). Einige Jahre später war zu lesen, dass einer der Angeklagten in diesem Brandstifter-Prozess einer der Wiener OPEC-Attentäter von 1975 war, Hans-Joachim Klein.


    Wie auch immer, das Haus blieb danach unbehelligt, die Mieter kamen und gingen. Ende 1998 war den neuen Eigentümern des Nachbarhauses Eschersheimer Landstraße 12 die Genehmigung erteilt worden, an ihrer nördlichen Außenwand ein Videoboard (Displaytafel) zur Anzeige von Informationen jeder Art einschließlich Werbung anzubringen; 2010 oder 2011 ist die Werbetafel entfernt worden, nachdem der Vertrag mit der Betreiberfirma beendet worden war.


    Nach dem Auszug des letzten Mieters, der WP-Gesellschaft Ernst & Young Ende 2005 musste die Eigentümerin, ein geschlossener Immobilienfonds und seine Verwaltungsgesellschaft Insolvenz anmelden. Nach jahrelangem Leerstand wurde das kleine Selmi-Hochhaus auf Antrag einer Grundpfandgläubigerin (Eurohypo) zwangsversteigert und von der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) erworben, die es grundhaft modernisieren und „wiederbeleben“ wollte; auch von einer Umwandlung in Wohnraum war damals (2012) die Rede, die aber an der MK-Festsetzung des B-Plans scheiterte.


    Unter dem 21.04.2008 wurde die Genehmigung für einen Vorbau an der Eschersheimer Ldstr. beantragt, der an die vorerwähnte Brandmauer der Eschersheimer Ldstr. 12 angebaut werden und diese um etwa 1 m überragen sollte. Auch sollte die östliche Lücke zwischen Hochhaus und Parkhaus in der Querstraße geschlossen werden. Hierdurch würde die GFZ des Gesamtkomplexes auf 8,5 und die GRZ auf 0,83 anwachsen sowie die Baugrenze an der Eschersheimer um 6,86 m überschritten werden; erforderlich waren ferner Befreiungen von den Abstands- und Brandschutzvorschriften. Dem Bauantrag hat die Bauaufsicht entsprochen und alle beantragten Abweichungen und Befreiungen erteilt.


    Die Eigentümer des Nachbargrundstücks Eschersheimer Ldstr. 12 fanden, das ginge zu weit und machten mit einer Nachbarklage geltend, die Erweiterung des Hochhauses mache ihnen die Nutzung der Werbeanlage unmöglich, die ihnen an der für den Anbau vorgesehenen Außenwand ihres Gebäudes genehmigt worden war; und überhaupt...


    Auf diesem Bild ist das corpus delicti zu erkennen.



    Bild: Schmittchen


    Ist das "kleine" Selmi-Haus ein Schwarzbau...


    Das Verwaltungsgericht Frankfurt hat der Klage mit Urteil vom 16. Mai 2011 (Az. 8 K 3785/10.F) stattgegeben, weil die angegriffenen Baugenehmigungen die nachbarlichen Abwehrrechte verletzten. An sich wäre dieses Urteil nicht weiter erwähnenswert, hätte sich das Gericht nicht zur einer bemerkenswerten Feststellung hinreißen lassen. Es rügte nicht nur, die Kläger könnten durch den Anbau ihre genehmigte Werbeanlage nicht mehr nutzen, sondern auch, dass die erteilte Befreiung von der festgesetzten Geschossflächenzahl rücksichtslos sei. Es komme dabei nicht auf Beurteilung des neu genehmigten Anbaus an, sondern auf das Gesamtvorhaben, also auch auf den Altbestand des Selmi-Hochhauses. Insbesondere dieser Teil der Urteilsgründe dürfte der Stadt Frankfurt wenig gefallen haben:


    „Zusammenfassend ergibt sich, dass die Festsetzung einer GFZ von 2,0 und einer GRZ von 0,6 für das Grundstück der Kläger wie die insoweit gleichen Festsetzungen in dem Plangebiet zwischen Eschersheimer Landstraße, Querstraße und Oeder Weg und den angrenzenden Bereichen allenfalls eine die für diese Bereich festgesetzte Höchstzahl von vier und fünf Vollgeschossen um ein Vollgeschoss übersteigende Zahl von Vollgeschossen ermöglichen sollte, offensichtlich jedoch kein 22-geschossiges Hochhaus. Die Ausnutzung der GRZ von 0,6 bei einer höchstzulässigen GFZ von 2,0 erlaubt ein maximal viergeschossiges Gebäude, die Ausnutzung der hier von der Beklagten der Beigeladenen zugestandenen GRZ von 0,71 gar nur ein maximal dreigeschossiges Gebäude.


    Der Befreiungsbescheid vom 27.11.1974 und die auf ihm basierende Baugenehmigung vom 06.12.1974 für das Hochhaus sind daher Akte reiner Willkür. Die Einschätzung der Kläger, dass es sich bei diesem Hochhaus um einen sog. Schwarzbau handelt, erweist sich als zutreffend. Gleiches gilt für die Befreiung für eine GFZ von 8,5, d.h. von dem 4,25-fachen des Zulässigen.
    ...
    Zusammenfassend ergibt sich, dass sowohl die Befreiung von der festgesetzten GFZ von 2,0 für eine GFZ von 7,06 als auch für eine GFZ von 8,5 einen eklatanten Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme darstellen.“ (VG Frankfurt , a.a.O.)


    ...oder nicht?


    So schön sich das für manchen auch anhörte, das Urteil wurde nicht rechtskräftig. Der 3. Senat beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung zugelassen und in seinem Berufungsurteil vom 24. August 2012 - 3 A 565/12 - die Frankfurter Entscheidung aufgehoben; dem Verwaltungsgericht waren offenbar ein paar Fehler unterlaufen:


    1.)


    Die Annahme der Rücksichtslosigkeit verbiete sich schon deshalb, weil die Baugenehmigung für die Werbeanlage der Kläger einen Widerrufsvorbehalt enthalte, wonach die Baugenehmigung widerrufen werden könne, wenn am Nachbargebäude bauliche Änderungen vorgenommen werden. Daraus folge, dass sich der Berechtigte nicht die Rücksichtlosigkeit der Baugenehmigung für den nachbarlichen Vorbau berufen kann, wenn der Nachbar mit seiner Genehmigung für den Vorbau die Voraussetzungen für den Widerruf der Genehmigung erfüllt.


    2.)


    Der Senat folgte auch nicht der Auffassung des Verwaltungsgerichts, die dem Bauherrn erteilte Befreiung sei rücksichtslos, weil der rechtlichen Beurteilung nicht nur der Vorbau, sondern das Gesamtvorhaben einschließlich des Altbestandes zugrundezulegen sei. Der Senat konnte nicht erkennen, worin die schutzwürdigen Interessen der Kläger liegen könnten, denen gegenüber die vom Verwaltungsgericht für nichtig gehaltene Befreiung rücksichtslos sein soll. Das Rücksichtnahmegebot hat nachbarschützende Wirkung nämlich nur, wenn der Nachbar eine besondere Rechtsposition und eine besondere rechtliche Schutzwürdigkeit, d.h. die Verletzung eigener subjektiver Rechte geltend machen kann. Solche Interessen seien nicht erkennbar.


    Auch zur Schwarzbau-These des Verwaltungsgerichts fand der Senat klare Worte: mit seiner Rechtskonstruktion verlasse das Verwaltungsgericht in der Sache den Bereich des subjektiven Rechtsschutzes und übe insoweit in unzulässiger Weise eine objektive Rechtskontrolle aus. Ein Abwehrrecht des Nachbarn gegen eine Baugenehmigung könne nur bestehen, wenn die Vorschriften, die er als verletzt ansieht, dem Schutz dieses Nachbarn zu dienen bestimmt, mithin nachbarschützend seien; ein solches, Nachbarschutz vermittelndes Recht sei im Rahmen der Befreiung nur der Anspruch auf Würdigung nachbarlicher Interessen, nicht aber die objektivrechtlich angelegte Einhaltung der Grundzüge der Planung in Gestalt der Ausnutzungsziffern GFZ und GRZ, Vollgeschossigkeit und Baugrenzen.


    3.)


    Hinzu kam, dass die Rechtsvorgänger der Kläger seinerzeit dem Bauherrn des Hochhauses ihre Zustimmung für einen späteren Anbau an der Eschersheimer Landstraße erteilt hatten, der mit dem heutigen Anbau nahezu deckungsgleich hatte sein sollen. Deshalb hätten die Kläger ihr Grundstück mit seiner Situationsbelastung durch das benachbarte Hochhaus erworben, was eine Einschränkung ihrer nachbarrechtlichen Abwehrrechte insoweit bewirke, als sie sich nicht erfolgreich gegen die Gebäude wenden könnten, deren Baugenehmigungen von ihren Rechtsvorgängern nie angegriffen worden sind. Daraus ergebe sich die Rechtsfolge, dass der Gebäudealtbestand einer gerichtlichen Nachprüfung auf die Einhaltung subjektiver Rechte der Kläger entzogen ist; dies könne nicht durch eine neuerliche Nachbarklage gegen den Anbau an den Altbestand umgangen werden.


    Wenn die Bescheide und Genehmigungen für den Altbestand auf dem Hochhausgrundstück mangels Verletzung subjektiv–öffentlicher Rechte nicht in die Prüfung der aktuellen Baugenehmigung einzubeziehen sei, sei nur die Genehmigung für den neuen Anbau auf Verletzung des Rücksichtnahmegebots zu untersuchen. Hierfür sei über die Beeinträchtigung der – gar nicht mehr existenten - Werbeanlage hinaus nichts rechtlich Relevantes vorgetragen worden oder sonst ersichtlich.


    4.)


    Nebenbei, gewissermaßen vorbeugend nahm der HessVGH am Rande auch noch zur Nichtigkeit der Baugenehmigung von 1974 Stellung: die Nachbarn könnten auch dann keinen Erfolg haben, wenn die für den Altbestand des Hochhauses erteilte Befreiung tatsächlich nichtig wäre.


    Wenn die alten Bescheide (Befreiung und Baugenehmigung) wirklich nichtig, also unwirksam wären, wäre davon auszugehen, dass damals überhaupt keine Befreiung erteilt worden sei. Für den Fall, dass einem Bauvorhaben eine notwendige Befreiung fehle, gehe die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich Senat anschließe, davon aus, dass Nachbarrechtsschutz in entsprechender Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO unter Berücksichtigung der Interessenbewertung nach § 31 Abs. 2 BauGB nur subjektiver Rechtsschutz zu gewähren ist. Selbst wenn also die vom Verwaltungsgericht als nichtig angesehene Befreiung für den Altbestand nicht existierte, könnten sich die Kläger nicht auf die im Urteil erster Instanz herangezogenen objektiv-rechtlichen Beurteilungskriterien berufen.


    Dies werden die Verantwortlichen im Magistrat dankbar zur Kenntnis genommen haben: Schwarzbau hin oder her, es kann sich heute keiner mehr darauf berufen. Ob damit wirklich ein Schlußstrich unter die fragwürdige und sicherlich auch teilweise rechtswidrige Genehmigungspraxis der 60er, 70er und 80er Jahre gezogen wurde, bleibt abzuwarten.


    Nach Rechtskraft der Entscheidung ist die Liegenschaft an den britischen Immobilienfonds-Manager Benson Elliot verkauft worden, der dann sogleich zügig zu Werke ging. Nachdem es Ende 2015 aus welchen Gründen auch immer nochmals eine Baueinstellung gegeben haben soll, scheint der Fertigstellung jetzt nichts mehr im Wege zu stehen.

    2 Mal editiert, zuletzt von tunnelklick () aus folgendem Grund: Rechtschreibung

  • Interessante Dokumentation. Da du der rechtlichen Würdigung viel Aufmerksamkeit widmest sei dazu noch etwas ergänzt.


    Das Baurecht ist eines der Verwaltungsgebiete mit dem meisten Ermessen überhaupt. Es ist voller "kann" und "soll" Regelungen, auch bzgl. Baugenehmigungen im Kontext von Bebauungsplänen. Die Baubehörden nutzen dies sehr verschiedentlich aus. Einige behaupten schlichtweg, es gäbe in Fall X kein Ermessen, weil Verwaltungsvorschrift X diese und jene Rechtsfolge besagt. Dabei sind Verwaltungsvorschriften rechtsunerhebliche, lediglich interne "Meinungen", von denen nicht nur abgewichen werden kann sondern muss. Denn umgekehrt hat ein Bürger sogar den Anspruch auf pflichtgemäßes Ermessen, wenn das Gesetz ein Ermessen der Behörde vorsieht. Sog. Untermessen führt ebenso zu einem rechtswidrigen Verwaltungsakt (zB in Form eines abgelehnten Bauantrags) wie die Überschreitung des Ermessensspielraums - letzteres ist allgemein bekannt, "Unterermessen" ist hingegen der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt.


    Dabei trennt die Verpflichtung zum Ermessen (die Behörde "darf" nicht nur, nach Belieben, sondern sie muss ermessen) das verwaltungsrechtliche Ermessen von bloßer Willkür. Das Ermessen muss nämlich weiterhin begründet sein. Weswegen einem klagenden Bürger, nebenbei gesagt, wenig besseres passieren kann, um pflichtwidriges Unterermessen/Fehlermessen/Mangelermessen/(es gibt einige Begriffe dafür) einer Behörde bei Gericht nachzuweisen, als wenn Behördenvertreter bzw. geladene Sachbearbeiter frank und frei sagen, so stehe das halt in den Verwaltungsvorschriften, man habe nur die Regeln befolgt und müsse doch jeden gleich behandeln oder was man da dann gerne hört. Nein, jeder Bürger hat den Anspruch auf einzelfallbezogenes, individuelles Ermessen, wenn der Gesetzgeber keine zwingende Rechtsfolge vorsieht, was gerade im Baurecht vergleichsweise selten der Fall ist, gerade weil man nicht möchte, dass Bürger unverhältnismäßig durch Baurecht gegängelt werden (was die Behörden aus diesem Wille des Gesetzgebers dann in der Ausführung machen, nun ja, davon kann man täglich in der Zeitung lesen).


    Eine solche Begründung für pflichtgemäßes Ermessen, nach dem der Bau genehmigt wurde, lag offensichtlich vor.


    Erste Instanzen neigen dazu, die umstrittene (bzw. in der Rechtswissenschaft kategorisch abgelehnte) Rechtsfigur des sog. intendierten Ermessens zu verwenden, um Bürgerklagen gegen Verwaltungsakte erstmal abzuschmettern. Dabei wird unterstellt, dass der Gesetzgeber trotz eindeutig eröffnetem Ermessen (siehe oben) ja im Grunde eine bestimmte Rechtsfolge im Regelfall vorgesehen habe und darum eigentlich ein pflichtgemäßes Ermessen mit entsprechender Begründung nicht nur überflüssig sondern ggf. sogar falsch wäre.


    Nach dieser Rechtsfigur kann man dann natürlich behaupten, dass es kein ausreichenden Ermessensspielraum gegeben habe, um diese Baugenehmigung zu erteilen. Wie die höhere Instanz dann ganz richtig korrigiert hat ist dies - wie die zu Grunde liegende Rechtsfigur des intendierten Ermessens - aber einfach rechtsfalsch.


    Weiterhin erlangen sogar problemlos rechtswidrige Verwaltungsakte unanfechtbare Bestandskraft, wenn gewisse Fristen nicht eingehalten werden. Dies betrifft nicht nur Verwaltungsakte die für Bürger nachteilig sind, sondern auch die Behörden können nach gewissen Fristen einen Verwaltungsakt nicht mehr zum Nachteil des Bürgers abändern, selbst wenn er rechtswidrig war. Rechtlich etwas ungenau ist das als "Bestandsschutz" ja auch allgemein bekannt. Und bei diesem lang bestehenden Bau ist jeglicher Fristablauf sehr unproblematisch. Die Baugenehmigung ist somit in jedem Falle rechtens.

    3 Mal editiert, zuletzt von Pumpernickel ()