Leipziger Architektur-Allerlei (Information & Diskussion)

  • In den Statistiken, die die Stadt Leipzig regelmäßig herausgibt (seit kurzem auch unter http://statistik.leipzig.de/ für jeden direkt einsehbar) gibt es die Aufschlüsselung der Gebäude nach Baujahr für jeden einzelnen Stadtteil. Der hohe Anteil denkmalgeschützter Bauten ist ein wesentlicher Grund für die aktuelle zweite Sanierungswelle, die zudem meist hochwertig ausfällt. Ich meinte jetzt nicht die Welle, sondern den Sanierungsgrad :)

  • Hier die Zahlen von 2010 aus der aktuelle Ausgabe des Statistischen Jahrbuchs in der Vorabfassung im WWW:


    Gebäude mit Wohnungen insgesamt: 56.519
    darunter mit einer Wohnung: 24.419
    mit zwei Wohnungen: 4.203


    daher Mehrfamilienhäuser (3 oder mehr Wohnungen): 27.897


    http://www.leipzig.de/imperia/…jahrbuecher/Kapitel06.pdf


    Im SEKO wird die Zahl von mehr als 16.000 denkmalgeschützten Gebäuden genannt.
    http://www.leipzig.de/imperia/…ngfassung_ohne_Karten.pdf


    Also ist jedes 3,5te Haus ein Denkmal. Die überwiegende Zahl der denkmalgeschützen Gebäude sind Mehrfamilienhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Zahl der älteren Wohnhäuser, der Ein- und Zweifamilienhäuser - einschließlich der kleinen Villen, die nur von einer oder zwei Familien bewohnt werden - und der nicht als Wohngebäude genutzen Bauten (Kirchen, Infrastrukturgebäude wie Trafostationen, Feuerwehrwachen etc.) dürfte im Vergleich eher gering sein. Die Zahl der denkmalgeschützten Industriebauten ist sicherlich etwas höher, aber die sind ja häufig in jüngster Zeit in Wohngebäude umgewandelt worden.


    Bei den Zahlen sind nach meiner Meinung nach nicht mal so sehr die Großwohnsiedlungen so "verzerrend", sondern die 28.622 Ein- und Zweifamilienhäuser, meist in Stadtrandlage bzw. den später eingemeindeten Dörfern. Rechnet man nur mal die rund 28.000 Mehrfamilienhäuser einschließlich der Plattenbauten, so kommt man bei ca. 14.000 denkmalgeschützen Wohnhäusern auf die schon von Cowboy genannte Beobachtung, dass nahezu jedes zweite Gebäude in der Leipziger Kernstadt ein Denkmal ist.


    Bei dem Vergleich muss man aber auch ehrlich zugeben, dass sich die Praxis der (nahezu schon flächendeckenden) Unterschutzstellung durch die untere Denkmalschutzbehörde in den frühen 90er Jahren recht deutlich von der anderer Städte in Sachsen bzw. Ostdeutschland unterschied und dass es in allen ostdeutschen Bundesländern mit deklaratorischen bzw. ipso-jure-Systemen deutlich mehr denkmalgeschützte Gebäude gibt als in den Ländern mit konstitutiven Schutzsystemen. Der Vergleich mit anderen Städten dieser Größenordnung hängt also etwas.

  • And the winners are...

    Im Rahmen des 1. Mitteldeutschen Bauforums wurde heute der Architekturpreis der Stadt Leipzig verliehen, der alle zwei Jahre von ihr ausgelobt wird. Die diesjährigen Gewinner sind zum einen der *hüstel* Erweiterungsbau der Nationalbibliothek, die Kita Zwergenland in Plagwitz und, ebenso in Plagwitz gelegen, die Spreadhshirt-Zentrale. Lobende Erwähnung gab es für das Neue Theatrium, die Sporthalle Werner-Heisenberg-Gymnasium/39. Grundschule, drei Sanierungen von Plattenbauschulen und die Einfeldsporthalle der Franz-Mehring-Schule.


    Etwas verwundert bin ich über die Entscheidung der Spreadshirt-Zentrale, handelt es sich hierbei doch in erster Linie um eine Revitalisierung eines denkmalgeschützten Industriekomplexes, so wie es auch in der Begründung der Jury steht. Dafür gibt's aber den Hieronymus-Lotter-Preis für Denkmalpflege, der ebenso alle zwei Jahre von der Kulturstiftung Leipzig vergeben wird. Klingt mir irgendwie nach verfehltem Thema...


    Ausführliche Infos zum Architekturpreis gibt es hier.

    Einmal editiert, zuletzt von Cowboy () aus folgendem Grund: aus Hieronymus "Hyroniemus" gezaubert. hehe...

  • Die LIZ berichtet ebenso ausführlich vom Architekturpreis der Stadt und erwähnt eingangs die Hintergründe dieses Preises, der seit 1999 vergeben wird. Dafür lässt sie Siegfried Schlegel von der Linksfraktion zu Wort kommen, den ich hier gern zitieren möchte:


    Es lag die Vorstellung zugrunde, beliebige und einfallslose, sich ständig wiederholende Architektur mit 'Keksrollen', pink- oder türkisfarbenen Fassadenkonstruktionen mit einem Negativpreis zu würdigen. Schnell wurde erkannt, dass die Würdigung von Gebäuden, die sich in die historische Umgebung einfügen und selbstbewusste, nicht dominierende moderne Architektur verkörpern, den Wettbewerb der Bauherren und Architekten beflügeln kann.


    Der Autor Ralf Julke war auch nicht zimperlich und beschreibt die von Schlegel gemeinte Negativarchitektur, die in den 90er-Jahren noch wütete, als "Baukastenkrempel", "anheimelnd wie ein Stundenhotel" und so "beeindruckend wie ein Container-Stapelplatz", von "westdeutschen Architekturbüros" bis dato noch in Schubladen verstaut, weil sie in den 1980-Jahren dort als nicht mehr umsetzbar galten. Meiner Meinung nach ein bisschen übertrieben, zumal es auch in den 1990er-Jahren richtungsweisende Architektur gab (es sei an Peek & Cloppenburg erinnert oder auch an Löhrs Carré), aber im Kern hat Julke sicher recht.


    Der angesprochene Preis für schlechte Architektur wurde natürlich nicht aus der Taufe gehoben, dafür der Architekturpreis zur Förderung der Baukultur. Ich weiß zwar nicht, inwiefern dieser Preis nun ausschlaggebend war, aber ich muss sagen, die Architektur hat sich insgesamt seit 1999 deutlich gebessert. Das liegt sicher auch daran, dass die Abschreibungsmöglichkeit für Neubauten in Ostdeutschland just im selben Jahr abgeschafft wurde.


    http://www.l-iz.de/Leben/Gesel…uer-Architekten29949.html

  • Der Autor Ralf Julke war auch nicht zimperlich und beschreibt die von Schlegel gemeinte Negativarchitektur, die in den 90er-Jahren noch wütete, als "Baukastenkrempel", "anheimelnd wie ein Stundenhotel" und so "beeindruckend wie ein Container-Stapelplatz", von "westdeutschen Architekturbüros" bis dato noch in Schubladen verstaut, weil sie in den 1980-Jahren dort als nicht mehr umsetzbar galten. Meiner Meinung nach ein bisschen übertrieben, --- aber im Kern hat Julke sicher recht.


    Die Linksgenossen mögen keine Farben, darunter auch pink nicht, sondern weiß-graue Schuhkartons, die in der DDR aus den Plattenbaufabriken kamen und heute wieder in Mode sind. Die meisten Menschen halten es genau umgekehrt. Besser ein Stundenhotel als ein Stallgebäude von einem Kolchos, wenn dieses Niveau hier zwingend notwendig ist.


    Ich kann mich auch auf die Ebene Julkes begeben und etwas über Entwürfe schwadronieren, die in der DDR als zu langweilig abgelehnt wurden, als Teil des Architektennachlasses im Altpapier gelandet sind, woher sie gefischt wurden. Die vorherrschende Architektensprache ist für einen Laien stark gewöhnungsbedürftig, aber mit etwas Übung kriegt jeder den Dreh raus.


    Jetzt zum Negativpreis. Das Heizwerksgebäude an der Nationalbibliothek fügt sich in nichts ein, sondern betont mehr als notwendig, anders zu sein. In diesem bemühten Selbstbewusstsein würde ein Psychologe versteckte Unsicherheit vermuten.
    Auf dem kleinen Foto erkenne ich ein paar Flecken, die pink oder so ähnlich wirken. Vielleicht deswegen hat das Gebäude den Negativpreis bekommen.

  • wenn dich architektur nicht interessiert, dann kauf dir doch ein buch zum ausmalen.


    zu cowboys beitrag:
    ich denke, der unterschied zwischen den 90ern und heute liegt auch an dem gewandelten umfeld. nach der wende gab es einen mangel an modernen wohnungen und büros. wer davon schnell und viel - und billig - baute, konnte auf eine hohe rendite spekulieren. inzwischen gibt es zum glück ein reiches angebot in qualitativ hochwertig sanierten objekten. daher liegt auch die messlatte für neubauten heute höher. wer nach der wende mit einer wohnung mit heizung und balkon glücklich war, will heute eine mit fussbodenheizung und riesenbalkon haben. ähnliches lässt sich bei arztpraxen, kanzleien und büros beobachten: die hausfassade wird wieder zunehmend als eine art visitenkarte verstanden. das schafft nachfrage nach architektur mit wiedererkennungswert.
    und so sollte es auch sein.

  • Vielleicht war es für ein Gebäude Anfang der Neunziger auch einfacher, sich vor dem Grau der verfallenen und verfallenden Gebäude positiv abzuheben - sie waren einfach neu und sauber und NICHT verfallen. Diese Rahmenbedingung ist zum Glück ... verfallen. :D

  • EIn Blick über den Tellerand.
    Da es nirgends so richtig reinpasst, da es Architektur im Allgemeinen betrifft, poste ich es lieber hier.


    DIE ZEIT Nr.48 vom 24.11.2011, auch in der Printversion vorhanden


    Architektur

    Schluss mit klotzig!
    Warum viele deutsche Städte in Hässlichkeit versinken. Das Beispiel Hamburg


    http://www.zeit.de/2011/48/Hamburgs-Haesslichkeit


    Da auch in Leipzig immer wieder "Glas-Beton-Stahl-Klötze" errichtet werden, die so langweilig sind wie eingeschlafene Füße, ist dieser Artikel wohl auch eine Warnung, dass Leipzig sich nicht verschandeln lassen sollte. Es gibt immerhin noch genug Flächen, wo Monotonie gebaut werden kann, bspw. Leuschner-Platz-Areal. Ich nenne zum Thema "langweilige Neubauten" jetzt keine konkreten Beispiele, da die Geschmäcker verschieden sind. Wo ich am liebsten mit dem Abrissbagger herangehen würde, schreien manche vielleicht "tolles Gebäude". :cool:

  • ^ Gerade am WLP ist Monotonie weder gewünscht noch geplant. Und auch im Rest des Leipziger Zentrums kann man getrost festhalten: auch wenn einzelne Gebäude dem Einen ge- und dem Anderen mißfallen, Monotonie sieht anders aus.


    Sieht man sich den Artikel mal an, sind doch sofort einige Unterschiede zu erkennen: alte Gebäude im Zentrum werden abgerissen, um Platz für Neue zu schaffen, Andere, bei denen die Fassade erhalten wurde, erhalten mehrstöckige Aufbauten, einen Gestaltungsbeirat gibt es nicht mehr. Alles Dinge, die ich in Leipzig momentan so nicht erkennen kann.

  • Die Situation ist in Leipzig vielleicht nicht so gravierend wie der Artikel über Hamburg suggeriert, aber auch hier gibt es solche Beispiele, nicht nur Gebäude aus den 90ern (beispielsweise der Keksbau neben der Reformierten Kirche), auch beim Ärztehaus am Simsonplatz, so gelungen es ist, stören die Blechentlüftungsaufbauten auf dem Dach gewaltig. Ähnlich wenn man von der Hainstraße auf den Markt tritt und Richtung Königshaus schaut. Zumindest aber scheint die Stadtverwaltung hier nachhaltiger zu denken was das Bauen betrifft. Trotzdem wieder bemerkenswert, mit welcher Arroganz dort in HH "Laien" eine fundierte Meinung abgesprochen zu werden scheint. Meiner Meinung nach sollte versucht werden, im Fachbereich den Begiff "Schönheit" wieder einzuführen und auf "interessant", "konsequent" und "schlicht" zu verzichten, damit ein wesentliches Merkmal von Architektur nicht dem Diskurs entzogen bleibt.

  • Zwar scheinbar nicht aus Blech, aber für mich dennoch den Gesamteindruck trübend sichtbar auf dem ersten Bild in Beitrag #72. Wenn man näher am Gebäude steht mag das keine Relevanz haben, aber von Ferne würde ich mir wünschen, dass die Dachlandschaft generell auch stärker als zu gestaltender Teil von Architektur und nicht nur rein funktionell betrachtet würde.

  • Zugegeben, auf den Fotos fällt das zwar auf, ich kann mich aber nicht daran entsinnen, dass mir das beim realen Betrachten genauso ging. Das ist dann wahrscheinlich der Vorteil der Fassade, die genügend Aufmerksamkeit beansprucht, um solche Dinge nicht allzusehr ins Gewicht fallen zu lassen.

  • [...] das Stilempfinden unserer heutigen Zeit unterscheiden sich radikal von jenen um 1900.


    Oh Ha! Seine Argumentation auf eine solche Aussage zu stützen, ist schon ein starkes Stück.


    Frag mal auf der Straße den gemeinen Bürger, was er ästhetischer findet:



    oder:



    Quelle: wikipedia

  • Oh Ha! Seine Argumentation auf eine solche Aussage zu stützen, ist schon ein starkes Stück.


    Frag mal auf der Straße den gemeinen Bürger, was er ästhetischer findet:


    Da der gemeine Bürger auf der Straße -genau wie der typische Leserbriefschreiber in der LVZ oder der BILD- nur redet oder eben schreibt, aber nicht aktiv wird und selbst ein Haus errichtet, ist die Argumentation sehr wohl berechtigt. Über fremdes Geld und Risiko zu schwadronieren ist einfach.

  • ^oh oh oh...an dieser Stelle könnte man jetzt ein dickes Fass Gesellschaftskritik aufmachen. Wir lassen das mal lieber. An der Frage von "olfrygt" ist zunächst erst einmal durchaus etwas dran. Der überwiegende Teil der Menschen würde schon den Gründerzeitbau präferieren. Darin sind wir uns doch einig, oder? Dass die Mehrheit aber nie die Kohle haben wird, sich und anderen solch ein Gebäude hochzimmern zu können, steht auf einem vollkommen und in dieser Beziehung erst mal irrelevanten Blatt, denn so oder so sind sie Bewohner der Stadt und definieren ihr Viertel als alltäglichen Lebensraum. Deswegen auch das Interesse an dessen Gestalt(ung).

    Einmal editiert, zuletzt von Dunkel_Ich ()

  • ... Der überwiegende Teil der Menschen würde schon den Gründerzeitbau präferieren. Darin sind wir uns doch einig, oder? Dass die Mehrheit aber nie die Kohle haben wird, sich und anderen solch ein Gebäude hochzimmern zu können, steht auf einem vollkommen und in dieser Beziehung erst mal irrelevanten Blatt, denn so oder so sind sie Bewohner der Stadt und definieren ihr Viertel als alltäglichen Lebensraum. Deswegen auch das Interesse an dessen Gestalt(ung).


    Ist zwar alles richtig; eines hat sich aber nicht geändert: Die. die die Kohle haben, können bestimmen was und wie gebaut wird. Vor 100 Jahren genau wie heute. Man kann das gut finden oder auch nicht. Wie würden das die Materialisten bezeichnen? Vermutlich als objektive ökonomische Gesetzmäßigkeit- und somit nicht unmittelbar vom Menschen zu beeinflussen (QUELLE) . Oder: Ist halt so! Und: Ich misstraue der Meinung des Stammtisches. In dessen Namen sind schon ganze Stadtviertel abgerissen worden.


    Auch bürgerschaftliches Engagement hilft nicht sicher gegen FLORANA u.ä.
    Quelle: APH


    Dunkel_Ich
    Das Geschäft im Erdgeschoss der Gründerzeitlers ist eines der von mir bevorzugten. Demnächst wird es mich wieder ins Morgenland entführen. ;)

    3 Mal editiert, zuletzt von Stahlbauer ()

  • ^
    Es ist doch nicht besonders abwegig zu unterstellen, dass sich Geschmack, Stil und Wohnansprüche in den etwas mehr als 100 Jahren seit der Blütezeit des Historismus verändert haben. Diese verändern sich doch ständig und fortwährend. Auch die heutige moderne Architektur wird in 100 Jahren mit Sicherheit nicht mehr den dann aktuellen Normen und Kriterien entsprechen können. Der Anspruch (Wohn-)Architektur für die Ewigkeit produzieren zu können ist nun mal utopisch. Jede Zeit hat ihre eigenen Ansprüche an architektonische Gestaltung.
    Ich halte den Einwand und die Fokussierung auf Geschmacksfragen für viel zu kurz gegriffen. Egal in welcher Zeit: ein Neubau wird immer von diversen Faktoren in seiner Gestaltung bestimmt. Diesen Faktoren kann man jedoch nicht in einer Straßenumfrage nachgehen. Will man wirklich wissen, wieso eine Architektur so aussieht, wie sie es tut, so bedarf es stattdessen einer genauen Betrachtung der Bauherren und der am Bau beteiligten Personen. Denn diese Akteure sind im Gegensatz zur vermeintlichen Mehrheit der Straße auch tatsächlich am Bauprozess beteiligt und haben auch fassbare Interessen und Ansprüche an moderne Architektur.
    Dabei wird sehr deutlich, dass Geschmack vielleicht ein relevanter Faktor bei der Gestaltung eines Neubaus ist (keiner baut für sich absichtlich entgegen des eigenen Geschmacks!) aber bei weitem nicht der einzige. Stahlbauer hat bereits den finanziellen Aspekt betont. Stuck, Ornamentik usw. sind in der Regel Handwerk und dementsprechend kostenintensiv. Aber auch andere aktuell sehr breit diskutierte Faktoren üben großen Einfluss auf die Gestaltung eines Neubaus aus: Energieeffzienz, Ökologie, Nachhaltigkeit, Wohnkomfort, Instandhaltungsaufwand und so weiter. Weil all diese Aspekte natürlich auch bezahlbar bleiben müssen, erhalten wir in der Konsequenz bei Neubauten in der Regel Architekturen, die sich deutlich von den historistischen Bauten unterscheiden. Aber bei all den funktionalen Aspekten darf auch nicht vergessen werden, dass es zahlreiche Bauherren gibt, die sich bewusst für eine sehr moderne Gestaltung ihrer Neubauten entscheiden. Geschmack ist ja schließlich sehr verschieden & veränderlich und deshalb weitestgehend immun gegen tatsächlich repräsentative Meinungsabbilder.
    Aber auch grundsätzlich ist eine Reduktion historistischer Architektur auf Geschmacksfragen unzureichend: Gesellschaftlich hat sich in den letzten 100 Jahren ja auch einiges getan. Daraus resultieren tatsächlich auch Folgen für die jeweilige Gestaltung von Wohnneubauten. Würde heute eine Baufirma einem Bauherren vorschlagen, dass sein neues Wohnhaus mit reichhaltigem Stuck und Ornamentik an der Fassade doch deutlich besser aussehen würde, könnte man in 99% der Fälle auf folgende Antwort der Bauherren wetten: „Das brauchen wir nicht unbedingt“. Warum? Sicherlich hat das auch kostenrelevante Gründe, aber es ist auch einer gesellschaftlich bedingten Veränderung der funktionalen Ansprüche der Bauherren geschuldet. Stuck und Ornamentik hatten im 19. Jahrhundert wirklich elementare Funktionen, die es heute nicht mehr dergestalt gibt. Ein Beispiel: Repräsentation in folgendem Sinne: Wenn eine Villa, ein Bürgerhaus oder eine Mietskaserne für das wohlhabende Bürgertum mit klassizistischen oder barocken Ornamenten versehen wurde – also mit der Adaption herrschaftlicher Bausymbolik - , dann lässt sich dahinter eine deutliche Aussage erkennen: Nämlich u.a. die selbstbewusste Betonung der eigenen wachsenden gesellschaftlichen und politischen Bedeutung eines erstarkenden Bürgertums. Stil war im Historismus also keineswegs nur eine Frage des Geschmacks, sondern stets auch Mittel für eine bestimmte Aussageabsicht. (Ein Parlament in antiken/griechischen Formen als Verweis auf demokratische Ursprünge, eine Neogotische Kirche aus Sehnsucht nach der tiefen Religiosität des Mittelalters…)
    Die Aktualität dieser Aussagen fehlt heute vollends. Historisierende Elemente im Ausmaß des gezeigten Beispiels wären in heutigen Neubauten deshalb meiner Meinung nach ziemlich inhaltsleer, weil ihnen der funktionale Bezug zur Gegenwart fehlt. Vielleicht würden sie einen speziellen Geschmack bedienen, aber gute moderne Architektur muss an deutlich mehr Aspekten gemessen werden als allein an subjektiven Geschmack.

    2 Mal editiert, zuletzt von aedificator () aus folgendem Grund: Ach mist, jetzt ist das schon wieder so viel Text geworden. Sorry.

  • Was der obige Vergleich eigentlich genau soll, bleibt dennoch fraglich; vielleicht lesen wir noch etwas zur Intention olfrygts


    aedificator hat mit seiner Aussage ein recht großes Fass aufgemacht, das eigentliche Thema hier sprengt. Ja, ich hab es ja mit aufgemacht...


    Meine primäre Intention war erstmal, das nicht einfach so unwiedersprochen stehen zu lassen.


    Der Vergleich sollte nur aufzeigen, dass Dinge, die das Stilempfinden von vor 100 Jahren hervorgebracht hat auch heute oft noch als viel ästhetischer empfunden werden, als das, was das Stilempfinden des heutigen, architektonische Opportunismus hervorbringt.


    Der Anspruch (Wohn-)Architektur für die Ewigkeit produzieren zu können ist nun mal utopisch.


    Ich bin mal sehr gespannt, ob in 50 Jahren der von mir verlinkte Roßbach-Bau noch steht und ob das GWZ gegenüber noch steht, bei dem die Fassade schon jetzt(~5 Jahre nach Bezug!) bröckelt. Das bringt einen auch gleich zu den Finanzen. Die Ansicht, es sei insgesamt teurer, wie vor 100 Jahren zu bauen, entsteht nur aus einer Kurzsichtigkeit.


    Außerdem: Ich wohne in meinem 100 Jahre alten Haus sehr schön. Man hat es (Überraschung!) geschafft, das Innenleben ans 21. Jahrhundert anzupassen. Und aus unerfindlichen Gründen scheint sich das finanziell sogar zu rentieren. Unglaublich, oder? Bei dem ganzen Stuck! (der übrigens vor 100 Jahren in Massen aus der Retorte kam. Könnte man sicher heutzutage auch wieder in Masse und somit günstiger herstellen. Paradox!)


    Zu all diesen und auch den angebrachten gesellschaftspolitischen Argumenten empfehle ich diesen Artikel.


    Ich denke die Gesellschaft hat kein radikal anderes Stilempfinden. Auch passen heutige Wohnansprüche hinter Giebel, Stuck und Mauerwerk. Nur ist Ästhetik einfach zu einer nicht-Priorität im Bauprozess geworden. Ganz nach dem angeführten Beispiel: "Verzierung? Brauchen wir nicht unbedingt."


    Es gibt Städte, die wesentlich genauer auf soetwas achten. Es gibt ja genug Instrumente um die Entwicklung des Stadtbildes zu beeinflussen. Es ist ja nicht so, als könne man den Prioritätenlisten der Bauherren nicht "auf die Sprünge helfen".

  • @ offtopic
    ich denke mal, viele leute würden auch klassische malerei oder im allgmeinen kunst der zeitgenössischen kunst vorziehen, genauso ist es mit musik oder literatur.
    die menschen wollen eben etwas neues schaffen und das ist meiner meinung nach völlig legitim.
    das macht denke ich auch eine stadt sehr viel spannender. jedes mal wenn ich über den dresdner neumarkt gehe, habe ich z.b. das gefühl, diese rekonstruktionen wären irgendwie nicht "echt", wie eine filmkulisse.
    auch ich würde eine altbauwohnung jeder zeit einem neubau vorziehen. trotzdem spreche ich moderner architektur deswegen nicht ihre berechtigung ab und finde, dass es viele gelungene beispiele in deutschland und auch leipzig gibt.
    aber es ist eben alles geschmackssache.