Form follows function - Louis Sullivans Leitsatz heute?

  • Form follows function - Louis Sullivans Leitsatz heute?

    Hallo,


    Wir, das sind die Innenarchitekturstudenten der Hochschule Coburg, haben die Aufgabe gestellt bekommen uns mit einer bestimmten Aussage auseinander zusetzen und diese zu hinterfragen:


    Form follows function ( Louis Sullivan)


    Vielleicht ist Ihnen dieser Satz ja das ein oder andere mal zu Ohren gekommen. Die Form folgt immer der Funktion. Diese These wurde in den 20er Jahren aufgestellt und war zu dieser Zeit womöglich zutreffend. Doch wie sieht es heute aus ? Steht die Form, die Ästhetik also immer noch an zweiter Stelle ?


    Es würde mich sehr freuen wenn Sie mir Ihre persönliche Meinung dazu schreiben würden. Kurz und knapp:


    Wem oder was folgt der Funktion ?
    Who follows function ?

    In dem Sinne bedanke ich mich schonmal bei Ihnen und freue mich bereits auf Ihre Antwort.

  • Walter Gropius hat in sehr vielen Aufsätzen immer wieder betont, dass "Form follows function" kein Leitgedanke jedenfalls seiner Architektur war. Vielmehr wäre seine ästhetische Idee eher mit seinem Schlagwort "Einheit in der Vielfalt" benannt.
    Wie moderne Architekten - etwa des Neuen Bauens in Deutschland - ihre Bauten gestalteten, lässt sich mit Orientierung an der Funktion auch gar nicht erklären. Da spielen eher Einflüsse des Jugendstils (das Fensterband zeigt sich schon in der Mathildenhöhe und z. B. bei Mackintosh), der Niederländer (de stijl - man denke an Haus Schröder in Utrecht: offenbar sozusagen ein Mondrian als Bau: http://www.google.de/imgres?im…e%26sa%3DN%26tbs%3Disch:1 ) u. a. eine Rolle, und die Idee, Gestaltungsweisen, die der industriellen Fertigung 'entsprechen', zu finden, findet ihren Höhepunkt im Bauhaus-Programm nach dem Umzug von Weimar nach Dessau. Führende Architekten des Neuen Bauens wie Haesler (in Celle: http://www.capriccio-kulturforum.de/bildende-künste-und-architektur/1492-siedlungsbau-der-moderne-wirklich-so-scheußlich/ ), May oder Bruno Taut gestalteten sehr bewusst in Anlehnung an die Bildende Kunst der klass. Moderne.
    Und schließlich: "Form follows function" erklärt auch deshalb nicht viel, weil z. B. ein Barockschloss ganz seinen Zweck erfüllen soll und eben deshalb so aussieht, wie es aussieht.
    Nein, die industriellen Fertigungsmethoden sowie der Einfluss der Bild. Kunst der klass. Moderne sind eher ausschlaggebend.

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  • Hinzufügen will ich noch:
    Grete Schütte-Lihotzky (http://de.wikipedia.org/wiki/Margarete_Sch%C3%BCtte-Lihotzky ), die mancher wohl auch als 'Funktionalistin' einordnen mag, betonte mir gegenüber 1988, dass sie sich immer gegen diese Bezeichnung gewehrt habe und es natürlich um einen ästhetischen Anspruch ging. Diesen mit sozialer Problemlösung zu verbinden - das ist es, was jedenfalls ich von Architektur erwarte. Zu Schütte-Lihotzkys Haltung passt, dass sie Breuers Stahrohrmöbel persönlich ablehnte: Sie seien zu "kalt", und sie zog in den 20ern Kramers Holzmöbel vor. Offenkundig waren ihr also atmosphärische Wirkungen ein großes Anliegen.
    Um zu ergründen, warum Architekten einen Bau jeweils wie gestalten, bedarf es grundlegender Architekturtheorien und ist Sullivans Phrase ungeeignet. Semiotische Ansätze wären vertreten in: http://www.envphil.ethz.ch/peo…ons/Inhalt.Einleitung.pdf
    und in:
    Dreyer, Claus (2003), Semiotische Aspekte der Architekturwissenschaft. In: Roland Posner , Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (eds.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3. Teilband, Berlin 2003: 3234 - 3278. (hier umfangreiches Literaturverzeichnis)


    Siehe auch: http://webcache.googleusercont…&cd=3&hl=de&ct=clnk&gl=de

  • Der Schluss, dass die Aussage, "Form follows function" bedeutet, die Ästhetik stehe an zweiter Stelle, ist sehr oberflächlich.
    Ich bin zwar kein Experte, aber Form hat erst mal gar nichts mit Ästhetik zu tun.
    Sullivans Ausspruch muss man auch eher auf die zu seiner Zeit neu aufgekommene Typologie Hochhaus beziehen. Er war der erste, der sich von der klassischen Schlosstypologie, die fast immer als Ausgangspunkt und Ideal architektonischer Werke betrachete wurde, programmatisch verabschiedete. So sahen vormalige Hochhäuser oft wie überhöhte Renaissanceschlösser aus. Von Ästhetik keine Spur. Das Gegenteil ist also der Fall. Gerade um Ästhetik zu erreichen, die vor allem ganzheitlich gedacht werden muss, also alle Sinne sowie Intellekt und Gesellschaft als Ganzes einschließt, MUSS die Funktion als zu lösendes Problem einer architektonischen Fragestellung Ausgangspunkt sein.
    Ein gutes aktuelles Buch dazu ist: "Archiektonische Qualität" von Georg Franck (Historischer Abriss, sowie aktuelle Debatten)


    Der aktuelle Zeitgeist ist widersprüchlich: Auf der einen Seite billigste Massenware im Wohnungsbau, wo man die Frage: "Kann man da wohnen? " durchaus mit ja beantworten kann, wenn man die rein mechanistische Seite der Funktion betrachtet. Wobei dort jeder architektonische Mehrwert, sei es für den einzelnen, sei es für die Stadt, schlichtweg fehlt.


    Auf der anderen Seite, gerade in den Großstädten, ist das architektonische Spektakel zur Funktion geworden. Hier geht es - von Elbphilharmonie bis Frauenkirche - hauptsächlich um die Produktion von Postkartenansichten.


    Ihr seht schon, Funktion im architektonischen Sinne ist ein Wort mit komplexer Bedeutung. Lest euch, falls euch das Thema wirklich interessiert, unbedingt in die Thematik ein. Auch die Klassiker von Sullivan/Loos (Jugendstil, in Anführungszeichen) über Mies, Corbusier (Klassische Moderne) bis Venturi, Rossi (Postmoderne). Vor allem letzteres ist als kritische Reflexion über die Phrase "Form follows Function" unabdingbar.

  • Danke

    Vielen Dank schonmal für eure Antworten. Sie haben uns ganz schön voran gebracht und zum nachdenken angeregt. Weiter so

  • Und schließlich: "Form follows function" erklärt auch deshalb nicht viel, weil z. B. ein Barockschloss ganz seinen Zweck erfüllen soll und eben deshalb so aussieht, wie es aussieht.


    Die wichtigste Funktion des Barockschlosses war Repräsentanz und die Form folgte dieser Funktion.


    Der Schluss, dass die Aussage, "Form follows function" bedeutet, die Ästhetik stehe an zweiter Stelle, ist sehr oberflächlich.


    Die Ästhetik ist eine der Funktionen nicht weniger als Baustatik oder Bauphysik. In der Architekturgeschichte gab es nie eine Epoche, in der die Ästhetik der Bauwerke den Menschen egal wäre. In unserer scheint eine kleine Minderheit die eigenen Vorlieben der Allgemeinheit aufzwingen zu wollen, diese oft zelebrierte rein mechanistische Seite der Funktion.

  • Form follows function gehört zu den Begriffen der Architekturtheorie, die ständig falsch wiedergegeben und interpretiert werden1. Es heißt nämlich 'form ever follows function'.


    Sullivan drückt mit diesem Satz eine Beobachtung aus der Natur aus, und stellt nicht eine Hypothese für gutes Bauen 'a la Sullivan auf. Ein Fisch sieht wie ein Fisch aus, weil er so am besten schwimmen kann, eine Blume ist besonders bunt, damit die Bienen sie finden etc.. Diese Beobachtung (die Sullivan nicht als erster machte) wurde dann gerade in den 20er und 30er Jahre aufgenommen, ganz besonders z.B. bei Hugo Häring, aber im allgemeinen generell, wenn auch nicht so stark in den meisten Strömungen dieser Jahre. Das 'Organische Bauen'2 hat dann diese Beobachtungen aufgenommen und zur Grundlage erklärt.
    Sullivan beschränkt sich auf das 'Tall Office Building', weil er daran seine Ideen am besten erklären kann, und bei diesem Typ kann man seine Ideen bis heute am besten nachvollziehen.


    Grundgedanke, um das einmal zusammenzufassen ist, dass das was funktioniert dem Menschen gefällt. Der Mensch selber kann ein Beispiel sein. Eine Frau mit breiten Hüften, und schlanker Taille ist potentiell 'gute Mutter', weil sie gerade nicht schwanger ist, und Kinder gut gebären kann. Deshalb finden Männer das schön. Frauen haben ja nicht breite Hüften bekommen, weil ein universales Gesetz bestimmt, das breite Hüften schön sind.
    Der gemeine Norddeutsche findet das stark geneigte Dach auch schöner, als das Flache, weil es den Regen besser ableitet. Wenn Du einen Ägypter fragst, ob er denn gerne ein steil geneigtes Dach hätte, würde er das auch nicht wollen.


    Der gotische Kirchenbau z.B. hat sich aus dem Bedürfniss entwickelt, Pilgern Reliquien zu präsentieren, und das in möglichst großer Menge. Die Menschen fanden ja nicht plötzlich Strebepfeiler toll. So ziemlich jedes Teil, was der Mensch sich an Bauschmuck/Architektur ausgedacht hat, hatte mal eine einfache Funktion die es erfüllen musste3.


    Solche Zusammenhänge brennen sich langsam, und unbemerkt in das kulturelle empfinden des Menschen ein, deshalb gilt noch heute: 'form ever follows function'


    Den Text gibt es für Interessierte hier zu lesen.


    1
    Siehe auch: Ornament und Verbrechen und nicht Ornament ist Verbrechen.
    2
    Sieha Hugo Häring in Briefen an Hans Scharoun: 'Organisches Bauen' meint nicht rund, nach der Natur oder der körperlichen Form gebildet, sondern aus der Organisation heraus entstanden


    3
    Siehe z.B. griechische Säulen. Ursrünglich aus Holz stehen sie auf einer Platte, damit sie nicht Nass werden (Basis) der Schaft ist die Säule, das Kapitell muss die Kräfte verteilen. Das Korinthische Kapitell ist auch wegen der großen Kräfte in der Korinthischen Ordnung besonders groß im Verhältnis zur Säule.

  • Die wichtigste Funktion des Barockschlosses war Repräsentanz und die Form folgte dieser Funktion.

    Eben. Barockschlösser sehen so aus, wie sie aussehen, weil sie so ihrem Zweck dienen. Sorry, ich dachte, ich hätte mich unmissverständlich genug ausgedrückt.

    Form follows function gehört zu den Begriffen der Architekturtheorie, die ständig falsch wiedergegeben und interpretiert werden1

    Mag sein, aber gemäß diesem vielleicht nicht das ursprünglich Intendierte entsprechenden Verständnis wird der Satz immer wieder behauptet oder gar als Maxime vielen Architekten unterstellt.

  • Bin zwar kein Architekt, aber Designprinzipien interessieren mich, weil sie oft fachübergreifend und universell gelten. Egal ob Architektur, Gebrauchsgegenstände oder Softwaredesign, die Prinzipien für maximale Gebrauchsfähigkeit und Eleganz sind oft überall ähnlich.


    Meine Interpretation von "Form Follows Function": Es ist ein universelles Gestaltungsprinzip, das in der belebten Natur allgegenwärtig ist. An den Körpern von Tieren und Pflanzen gibt es selten etwas Überflüssiges. Ein Panther oder einer Tiefseequalle sind jeder auf seine Art elegant und perfekt an ihre Lebensräume angepasst. Jeder überflüssige Ballast würde Energie vergeuden und vor allem die Überlebenschancen verringern. Die Formen in der Natur sind durch Evolution von selbst entstanden. Gerade deshalb kann man davon ausgehen, dass sie maximal auf das Wesentliche reduziert sind. Lebewesen, die nicht nahezu optimal gestaltet sind, verhungern oder werden gefressen.


    Wenn man nun Gebrauchsgegenstände oder Gebäude schaffen will, die wie selbstverständlich zeitlos elegant sind und möglichst allen Leuten gefallen, ist die Chance groß, dass man dies durch Anwendung des Prinzips erreicht, das auch in der Natur den Ton angibt, also "Form Follows Function". In der Evolution ging das von selbst, aber ein menschlicher Designer braucht viel Wissen, Erfahrung, Talent und Intuition, um das Naturprinzip "Form Follows Function" nachzuahmen, Ockham's Razor anzuwenden und seine Entwürfe von allem Überflüssigen zu befreien und seinen Produkten maximale Eleganz zu geben.


    Das Gegenteil von Eleganz ist Kitsch. Ein Haus in Form eines riesigen Fernglases ist zwar lustig, aber doch irgendwie kitschig (zumindest solange man es nicht als Kunstobjekt betrachtet). Oder diese Kitsch-Souvenirs, die man überall auf der Welt kaufen kann: zusammengeklebte Muscheln in Männchenform oder mit Sehenswürdigkeiten billig bemaltes Gedöns: weitgehende Funktionslosigkeit, beliebige Form und weitgehende Abwesenheit von Eleganz! Auch funktionslose Ornamente empfindet man oft als kitschig. Überflüssiges wirkt meist störend, albern oder unfreiwillig komisch. Modetrends entpuppen sich oft als kitschig, wenn man aus der Zukunft auf sie zurückblickt.


    Es gibt aber auch anscheinend überflüssige und anscheined kitschige Formen in der Natur. Das Federkleid des Erpels ist deshalb so bunt, weil die Entendamen darauf abfahren. Oder fahren die Entendamen deshalb auf bunte Federn ab, weil die Erpel welche haben? Jedenfalls können manche Gestaltungselemente, die der reinen Funktion wenig zuträglich oder sogar etwas abträglich sind, trotzdem sexy sein und für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen.


    An dieser Stelle scheint das Prinzip "Form Follows Function" irgendwie unscharf zu werden, und Ornamente können plötzlich doch einen Sinn ergeben. Designguru Donald A. Norman beschreibt das als Emotional Design: ein wenig Verspieltheit im Design macht es uns oft leichter, ein Produkt nicht nur nützlich zu finden, sondern zu lieben (oder auch zu hassen).

    Einmal editiert, zuletzt von micro ()

  • ^^
    In der Natur gibt es unzählige Beispiele für Schmuck der beim täglichen Überleben hinderlich ist. Angefangen von den Fettansammlungen an der weiblichen Brust des Menschen die beim Laufen stören bis hin zu Vögeln wie Pfauen die aufgrund ihrer sehr langen Schmuckfedern nur noch schlecht fliegen können.


    Man könnte vielleicht zu dem Schluss kommen dass Schmuck in der Regel eine im weitesten Sinne sexuelle Funktion hat. Auch die Statuserhöhung dient ja zur Verbesserung der Fortpflanzungschancen.


    Ob es wirklich universelle Gestaltungsgrundsätze gibt anhand derer man ein Design schaffen kann welches jedem gefällt erscheint mir fraglich. Unser Geschmack ist doch sehr von unserer jeweiligen Sozialisation beeinflusst. Und ist dementsprechend auch vielen Veränderungen und Moden unterworfen. Wir können letztlich gar nicht unbeeinflusst und unabhängig urteilen.


    Sogar die Beurteilung der Attraktivität des menschlichen Körpers ist offenbar Modeerscheinungen unterworfen. Nur wenige Merkmale wie die Symmetrie des Gesichts scheinen universell positiv bewertet zu werden. Wobei ich letztens mit Potraitfotografen gesprochen habe die auch dem widersprachen. Sie meinten wirklich symmetrische Gesichter würden weniger attraktiv wirken als leicht unsymmetrische.


    In der Architekturgeschichte gab es nie eine Epoche, in der die Ästhetik der Bauwerke den Menschen egal wäre. In unserer scheint eine kleine Minderheit die eigenen Vorlieben der Allgemeinheit aufzwingen zu wollen, diese oft zelebrierte rein mechanistische Seite der Funktion.


    Nach meinem Eindruck wurde früher sehr einheitlich gebaut. Erst in unserer Zeit herrscht bei Neubauten eine sehr große Vielfalt. Siehe zum Beispiel das gerade fertiggestellte Hackesche Quartier hier in Berlin.


    http://www.deutsches-architekt…thread.php?t=6316&page=19


    Es ist also eher umgekehrt zu deiner Aussage. Früher unterlagen die Bauherrn anscheinend stärker dem Zwang des Zeitgeistes während sie heute größere Freiheit haben nach ihrem jeweiligen eigenen ästhetischen Empfinden oder auch nur der puren Funktion und maximalen Effizienz folgend zu bauen.

    10 Mal editiert, zuletzt von Chandler ()

  • Ob es wirklich universelle Gestaltungsgrundsätze gibt anhand derer man ein Design schaffen kann welches jedem gefällt erscheint mir fraglich.


    "Jedem gefällt" war auch ungeschickt ausgedrückt von mir. Vielleicht sollte man besser sagen: so dass es maximal zweckmäßig ist und sich gut verkauft.

  • Weiß man eigentlich genau wie die uns heute hässlich erscheinenden Bauten aus den 50er bis 70er Jahren bei den damaligen Zeitgenossen ankamen. Wenn sie damals allgemein als schön und ästhetisch galten wäre das ja schon ein klarer Hinweis dass es schwierig ist zeitlos "schön" zu bauen.



    Ich weiß es nicht. Eine der Ursachen für Moden ist wohl der Wunsch nach Abwechslung. Man wird also um Variationen nicht herumkommen. Eine anderer Punkt ist die Funktion der Abgrenzung von - bzw. Demonstration der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Schicht usw..


    Außerdem gibt es auch den Wunsch nach Exclusivität bzw. Alleinstellungsmerkmalen.


    Andererseits gibt es aber auch viele Menschen die möglichst wenig auffallen wollen und sich unbewusst dem Mehrheitsgeschmack anschließen. Ich trage z.B. auch meist blaue Jeans. Und im Winter eine schwarze Jacke. So wie fast alle Anderen. Aber ob das auch in 30 Jahren noch so sein wird, weiß ja auch niemand?

    8 Mal editiert, zuletzt von Chandler ()

  • Nach meinem Eindruck wurde früher sehr einheitlich gebaut. Erst in unserer Zeit herrscht bei Neubauten eine sehr große Vielfalt. Siehe zum Beispiel das gerade fertiggestellte Hackesche Quartier hier in Berlin.


    Es gibt einige wenige anspruchsvolle Projekte, wo man auf Qualität, Vielfalt und Wiedererkennbarkeit achtet. Wenn man die Masse der hier ankommenden Projektmeldungen durchschaut, bekommt man ein Bild wie Jaro_E ("billigste Massenware im Wohnungsbau"). Eine schnell zusammengewürfelte Handvoll Beispiele als Kontrast zum geglückten Hackeschen Quartier:


    Dortmund-Eichlinghofen
    Dortmund-Lücklemberg
    Dortmund-Bittermark
    Köln-Vorgebirgsgärten
    Köln-Hospeltstraße
    Essen-Universitätsviertel
    Essen-Rüttenscheider Höfe
    Essen-Dellwig


    Es gibt aber auch anscheinend überflüssige und anscheined kitschige Formen in der Natur. --- Jedenfalls können manche Gestaltungselemente, die der reinen Funktion wenig zuträglich oder sogar etwas abträglich sind, trotzdem sexy sein und für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen. An dieser Stelle scheint das Prinzip "Form Follows Function" irgendwie unscharf zu werden, und Ornamente können plötzlich doch einen Sinn ergeben.


    Species, die auf Minimalismus gesetzt haben, hatten geringere Paarungschancen und sind im Verlauf der Evolution ausgestorben. In der Immobilienwirtschaft bedeutet abweisende Gestaltung Leerstände, die die wichtigste Funktion aus der Sicht des Investors bedrohen. Durch das Gegensteuern riskiert man jedoch bissige Kommentare in einigen Architekturzeitschriften und anderen Medien wie in diesem Interview. Dort plädiert ein Architekt für reduzierte Formensprache und dafür, dass die überwältigende Bevölkerungsmehrheit über das eigene ästhetische Empfinden nicht laut reden darf. Ähnliche Aussagen sind schon sehr häufig vorgekommen.


    Ein Branchenkenner erzählte mir letzte Woche, dass die Designer eine Website haben, auf der man über verschiedene Gestaltungsvarianten abstimmen kann. So kann man womöglich die Variante am objektivsten ermitteln, die die ästhetische Funktion am besten (im Sinne der meisten Empfänger) erfüllt. Dass nur Diplombesitzer stimmberechtigt wären, hat mein Bekannter nicht gesagt.

    Einmal editiert, zuletzt von Hancock () aus folgendem Grund: + 2 Beispiele

  • Abgesehen von Köln-Hospeltstraße sind deine Beispiele aber keine Billigwohnungen.


    Der Punkt ist doch dass es weitgehend in der Entscheidung des Bauherren liegt wie er die Gebäude gestalten möchte. Also auch ob er auf eigentlich überflüssigen Zierrat verzichten möchte oder nicht. Und es sehen keineswegs alle neueren Mehrwohnungsbauten völlig gleich aus. Wobei es natürlich auch eine Preisfrage ist.


    Für mich persönlich sind große Fenster wohl das wichtigste ästhetische und funktionale Merkmal. Dann sieht der Bau in der Regel schon erträglich aus und es wirkt auch von innen meist angenehm.


    Berliner Beispiele.


    Maisonette mit Blick auf den Wannssee
    http://showmystreet.com/0v7l9m_7u5ue_jg2_0d
    Am Volkspark Friedrichshain
    http://showmystreet.com/0v9v51_7zrxy_ha3_1k
    Innenstadt
    http://showmystreet.com/0v9j6z_7z60x_hct_0m
    http://showmystreet.com/0v9ap9_7xck4_j2r_1b


    sogenannte Townhäuser
    http://showmystreet.com/0v9k7f_7z6gc_j73_1e

    2 Mal editiert, zuletzt von Chandler ()

  • Diese Beispiele wirken sehr nett, was jedoch dadurch erreicht wurde, dass die Gestaltung keinesfalls übertrieben reduziert wurde. Würden alle Entwürfe mit Details ähnlich sparsam, aber nicht stur ablehnend umgehen, wäre ich froh.

  • Wenn ich so darüber nachdenke, erscheint mir "Form follows funktion" als nur logisch.



    Im Gestaltungsprozess von Gebrauchsgegenständen (im weitesten Sinne, also alles, was man als physischen Gegenstand wahrnimmt, und ihn zu einem Zweck gebraucht) wird die Form immer erst dann gewählt, wenn die Funktion klar ist. Viel mehr ist Funktion überhaupt erst der Grund dafür, eine Form zu kreiern. Es ist irrwitzig, einen Stuhl zu designen, der zum Sitzen nicht geeignet ist, denn erst die Funktion "Möbel zum Sitzen" gibt dem Stuhl erst seine Defintion. Allerdings ist es schwierig, einem Gegenstand eine Funktion zuzuschreiben: Die Formwahl gehorcht vielen Funktionen. So soll ein Stuhl nicht nur ein Sitzmöbel sein, sondern eines, auf dem man länge bequem sitzen und konzentriert arbeiten kann. Oder er soll mit wenig Material auskommen, er soll den Rücken entspannen, oder leicht zu reinigen sein. Je mehr Funktionen ein Gegenstand zu erfüllen hat, desto geringer wird der Spielraum, der bei der Formfindung vorhanden ist, manchmal so klein, das die Formfindung sich als schwierig gestaltet, weil es darum geht, eine Form zu finden, die überhaupt in diesen Spielraum passt.
    Ferner ist es überhaupt erst die Funtion, die den Impuls dazu gibt, eine Form zu finden. Selten nageln Menschen ziellos ein paar Bretter zusammen, und nennen das Ergebnis 'Stuhl'


    Hiervon frei macht sich die Kunst; Ihr geht es gerade entschieden nicht darum, Gebrauchsgegenständen eine Form zu geben. Sondern Dinge von ihrer Funktion zu befreien, um die Form an sich zu betrachten; Eine Funktion gibt es nur dann, wenn der Künstler eine solche wählt. Allerdings ist es auch hier schwierig; Ein Künstler macht sich Gedanken über die Wirkung der Form auf den Betrachter, und sei es, dass er sich selbst als Betrachter sieht und sich auf die Wirkung seines Werkes auf ihn selbst als einzigen Maßsstab sieht. Hierin könnte man die "Wirkung auf den Betrachter" als Funktion sehen. Erst dann greift der Künstler in die Form ein.


    Das Finden der Funktion kann auch rückwirkend geschehen: Die Funktion folgt der Form. Diese Umkehrung des Prinzips wäre dann aber nicht mehr als ein Zufallsprodukt.


    Im Gebrauchsgestand-Design, also auch in der Architektur, wäre eine solche Umkehrung eine Verschwendung von Ressourcen, die der menschlichen Logik widerspräche, dem setzen eines Ziels (als Funktion) und dem folgenden Finden einer Form. Das (Er)finden einer Form und die nachträgliche Suche nach einem Zweck. Selterner hält der Mensch, plastisch ausgedrückt, einen Fonduestab in geschmolzen Polystyrol und erhält eine zufällige oder wählt bewusst eine Form, um sich dann die Frage zu stellen: Was kann man eigentlich damit machen? (Im Zweifel können die meisten Gegenstände immernoch als Flaschenöffner dienen.) Also entsprihct es schon unserer, der menschlichen Herangehensweise, die Form der Funktion folgen zu lassen.
    Das waren so meine spontanen Gedanken dazu.


    PS.: Das Gebäude an der Ecke Niederwallstraße / Jägerstraße gefällt mir besonders. Es erinnert an einen Gründerzeit-Altbau, ohne wie eine Kopie eines solchen zu wirken, sondern dennoch modern auszusehen.:daumen:

    Einmal editiert, zuletzt von Xysorphomonian () aus folgendem Grund: fehlendes Wort ergänzt

  • Guter Punkt!! Ist es nicht genau das, was den denkenden Menschen von der Natur unterscheidet? Das vorausschauende Erkennen von Problemen und Entwerfen von Lösungen? Ganz anders die Natur: Sie wirft planlos neue "Formen", genauer: leicht veränderte Systeme durch DNA-Mutationen in das größere System der Natur. Nur die Systeme, die durch arbeitsteilige Symbiose mit anderen Teilsystemen der Natur einen Sinn ergeben, also eine "Funktion" erhalten, überleben langfristig. Hier steht also die Form vor der Funktion.

  • Frage der Definition?

    Ich habe nun viele Beiträge gelesen und muss sagen, dass sich fast Jeder seine eigene Meinung in den Satz reininterpretiert hat. Das Wesentliche soll, meiner Meinung nach, jedoch nicht eine Lehr- oder besser noch Leer-Satz sein, sondern das persönliche Empfinden. Kein Architekt braucht sich zu wehren, wenn eine überwiegende Anzahl der Bevölkerung tradierte-klassische Bauweisen liebt. Wieso nicht. Er lässt sich sicher auch nicht sagen, welche Frau er gut finden soll!
    Deshalb: Der Geschmack seines Nächsten ist unantastbar, erst wenn der Nachbar gegenüber ein scheußliches Haus baut und hasst das Ihrige, dann sollten Sie mit ihm das Haus tauschen. Alles wäre in Ordnung. Oder?
    Wer keinen Architekten findet, der nicht reinredet bei dem Wunsch eine schöne Villa planen zu wollen, der kann sich heute ja auf seinem iPhone eine bauen, siehe bei http://www.iVilla.de (...oder auch Schütteln)
    Viel Spaß noch beim Diskutieren und bei der Frage was wem folgen soll. :lach:

  • Wenn sie damals allgemein als schön und ästhetisch galten wäre das ja schon ein klarer Hinweis dass es schwierig ist zeitlos "schön" zu bauen.
    Ich weiß es nicht. Eine der Ursachen für Moden ist wohl der Wunsch nach Abwechslung. Man wird also um Variationen nicht herumkommen.


    Wenn man aber Moden bei der Gestaltung bewusst vermeidet, muss eigentlich ein weitgehend zeitloses Design übrig bleiben. Es braucht natürlich Erfahrung, die Moden überhaupt als solche zu erkennen. Nun gut, ganz zeitlos kann es nicht immer sein, weil es manchmal Weiterentwicklungen bei Materialien gibt, die die alten Designs dann einfach "alt" aussehen lassen.



    Der Geschmack seines Nächsten ist unantastbar, erst wenn der Nachbar gegenüber ein scheußliches Haus baut und hasst das Ihrige, dann sollten Sie mit ihm das Haus tauschen.


    Es gibt aber schon universellere Prinzipien des schlechten Geschmacks: Gutes Design haut seine Benutzer z.B. nicht übers Ohr. Laminate oder Plastikfolien mit Holzoptik, Fliesen mit Marmoroptik, goldfarbenes Blech... Eine sichere Methode, schlechtes Design zu schaffen ist, billige Materialien zu verwenden, die teure imitieren.

  • Es gibt aber schon universellere Prinzipien des schlechten Geschmacks: Gutes Design haut seine Benutzer z.B. nicht übers Ohr. Laminate oder Plastikfolien mit Holzoptik, Fliesen mit Marmoroptik, goldfarbenes Blech... Eine sichere Methode, schlechtes Design zu schaffen ist, billige Materialien zu verwenden, die teure imitieren.


    Goldene Leiter als Zierde eines Einkaufszentrums in Duisburg, goldene Platten auf der Fassade der Dortmunder Thier-Galerie, Natursteinbelag auf Fassaden unzähliger Gebäude mit Konstruktion aus Stahlbeton. Das alles kommt sehr gut an, also so universell sind Deine individuellen Empfindungen nicht.


    Wie kann man mit Sullivans Prinzip Entwürfe wie das P+C in Köln erklären, die zwar auf goldene Bleche verzichten, aber für die beteiligten Statiker und Bauleiter in der Ausführung teurer Albtraum sind? Die gleiche Verkaufsfläche mit ähnlicher Anziehungswirkung auf das Publikum hätte man preiswerter erreichen können. (Ich möchte hierdurch nicht den Kölner Entwurf kritisieren, allerdings wenn ich der Investor wäre, wäre mir solch extravagante Form riskant.)