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  • Tag 8: Tagesausflug nach Stralsund (Teil I)


    Zum Eindruck, den diese wunderschöne, unterschätzte Perle Mecklenburg-Vorpommerns auf micht machte, gebe ich einfach mal meine Reisenotizen wieder:


    Tagesausflug an die Ostsee nach Stralsund. Auf der dreistündigen Fahrt mit dem Regionalexpress durch Nordbrandenburg und Mecklenburg-Vorpommern menschenleere Landschaften durchquert, die an sich nichts weniger als spektakulär sind, aber einen eigenartigen Zauber bekommen durch ihre für das extrem dicht besiedelte und fast restlos rational durchgenutzte Deutschland ganz ungewöhnliche Weite und Stille, über zig Kilometer nur Nadel- und Birkenwälder, magere, von unscheinbaren kleinen Bächlein durchzogene Wiesen und einsame Seen ohne irgendein Zeichen menschlicher Besiedlung außer den Signalmasten der Eisenbahn, ab und zu einer kaum befahrene Landstraße oder hier und da dem backsteinernen Kirchtum eines Dorfes am Horizont. In keiner anderen Landschaft Mitteleuropas dürfte man soviel Ruhe finden, nirgends sonst die Existenz der Zivilisation so leicht vergessen können wie hier.


    Nach der Ankunft in Stralsund zuerst ins Kulturhistorische Museum, das in den Räumlichkeiten eines aufgehobenen gotischen Klosters untergebracht ist und neben einer Sammlung zur Stadtgeschichte prä- und frühhistorische Bodenfunde der Region zeigt. In der stadthistorischen Abteilung verblüfft der unglaublich schnelle Aufstieg dieser Städte im Bereich der deutschen Ostkolonisation des 13. Jahrhunderts: Zu Beginn des 13. Jahrhunderts noch eine quasi bronzezeitliche, schriftlose Gesellschaft mit kaum ersten Ansätzen von Urbanisierung, 50 Jahre später voller prosperierender Handelsstädte, in denen monumentale Kirchen in den Himmel wuchsen. Stralsund war rund 100 Jahre nach seiner eigentlichen Gründung mehr oder weniger fertig ausgebaut, dementsprechend zeigt die Altstadt auch ein recht einheitliches spätgotisches Bild, ganz im Gegensatz zum für das Mittelalter üblichen Prozess langsamer, ungeplanter, wirrer Stadtentwicklung. Schade freilich, dass die Kultur der deutschen Kolonisten des 13. Jahrhunderts die lokalen Kulturen in kürzester Zeit so vollständig assimilierte und nichts übrigließ vom multikulturellen Mikrokosmos skandinavischer und slawischer Traditionen.


    Anschließend zuerst zu St.Marien, größte Kirche der Stadt und erster Monumentalbau der nordeuropäischen Backsteingotik, den ich betrete. Der basilikale Grundriss mit Querhaus, Chorumgang und Kapellenkranz ähnelt durchaus den klassischen gotischen Kathedralen Nordfrankreichs, aber einen wie völlig anderen, viel herberen Charakter hat das Ganze dennoch, teilweise durch das Baumaterial Backstein bedingt, teilweise durch das wuchtige, blockhafte und ganz und gar unfranzösische Westwerk! Der Raumeindruck ist überwältigend und erweckt kaum weniger Ehrfurcht als das Innere der Kathedrale von Amiens. Einen gewissen Anteil daran trägt auch der teilweise abgeblätterte weiße Putz des Innenraums, der das nackte Gerüst des Backsteins hervortreten lässt und dem Raum eine rauhe Strenge gibt wie den spartanischsten Bauten der Romanik, ich dachte an die Burgkirche von Cardona oder St.Sernin in Toulouse. Im Laufe einer Restaurierung wird allerdings die ganze Kirche bald wieder ihren historisch korrekten weißen Putz zurückerhalten, der allerdings, wie ich fürchte, mit seinem Überdecken der der reinen Struktur des Baus eine ästhetische Einbuße bedeuten wird.


    Die weitgehend sanierte und gepflegte Altstadt von Stralsund zeigt sich bei meinem Rundgang idyllisch und schön, aber außerhalb des Hafenbereichs mit dem Ozeanum, vielen Gaststätten und neuen Hotels auch auffallend ausgestorben. Sicher trägt der heutige Pfingstsonntag dazu bei, aber dieser Eindruck spiegelt die massive Schrumpfung der Stadt von rund 80 000 Einwohnern unmittelbar nach der Wende auf heute weniger als 60 000. Noch dazu sieht man unter den wenigen Menschen auf den Straßen kaum junge Leute, es kann einem zweifelhaft erscheinen, ob all diese pittoresken Städte Nordostdeutschlands überhaupt noch einmal festen Boden unter den Füßen gewinnen werden in der Spirale der Auszehrung. Neben dem Hafen ist der Marktplatz so ziemlich der einzige Ort der Stadt, in dem sich auch an diesem Sonntag etwas urbanes Leben abspielt, vor der Kulisse des großartigen spätgotischen Ensembles aus Rathaus und St.Nicolai. Diese älteste der drei großen gotischen Backsteinkirchen der Stadt wurde 1270 begonnen, stammt überwiegend noch aus dem 13. Jahrhundert, was höchst erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass die gotische Architektur im deutschsprachigen Raum erst rund 50 Jahre vorher einsetzte, und zwar in den ältesten, am höchsten entwickelten Kulturregionen Westdeutschlands, während hier an der Ostsee gerade erst die Vorgeschichte zu Ende ging. Aber vielleicht war es gerade der Minderwertigkeitskomplex der soeben erst in die westliche Zivilisation intergrierten Gebiete gegenüber den alten Kulturregionen des Westens und Südens oder, wenn man es positiv formulieren will, ihre Aufbruchstimmung, die dafür sorgten, dass ausgerechnet in Magdeburg und den Städten des Ostseeraumes einige der frühesten und schönsten Großbauten der Gotik in Deutschland entstanden (Ein ganz ähnlicher Mechanismus lässt sich ja bspw. heute bei den Golfstaaten beobachten, die gerade erst vor ein paar Jahrzehnten der bittersten Armut und Unterentwicklung entstiegen sind und diesen atemlosen Aufschwung mit hypermodernen Megabauten dokumentieren, die sich ökonomisch kaum sinnvoll begründen lassen).


    Die Nicolaikirche hat nicht die Wucht und Strenge von St.Marien, dafür aber eine fast vollständig erhaltene Innenausstattung mit herrlichen Fresken, farbiger Ausgestaltung und all dem Gewirr von Kunstwerken und Kuriositäten, die sich in einer lebendigen Kirche über die Jahrhunderte hinweg ansammeln und die es in den deutschen Kirchen mit ihren Kriegszerstörungen nur noch selten in organisch gewachsener Form gibt.


    Am Stadtrand von Stralsund, besonders an den Grünanlagen der Küste, überraschen viele schöne Villenalleen, deren Bebauung überwiegend erst wenige Jahre alt ist. Trotz seiner allgemeinen Schrumpfung scheint die Mischung aus reizender Altstadt, Meer und ruhiger Natur in der Umgebung immerhin eine Menge Reicher auf der Suche nach einem Rückzugsort anzuziehen.


    Und hier die Bilder:











  • Die ganzen stalinistischen Blöcke dort scheinen inzwischen auch zu gefühlten 80% aus Steak Houses zu bestehen...


    Der Rest von Stralsund:


    St.Nikolai, 13. Jahrhundert:






    Das alte Rathaus, überwiegend 14. Jahrhundert:



    In St. Nikolai:






  • Leier kann man die meisten Bilder nicht betrachten, da Photobucket offensichtlich eine Begrenzung für maximale downloads hat. Am besten, du verteilst die Bilder stärker auf mehrere Postings, dann bricht die Seite schneller um, und nicht jeder muss immer alle Bilder von Anfang an neu laden.


    ps Firefox ist bereits bei 1,5 GB Speicherauslastung auf meinem PC, jeder ältere PC und kleinere Mobilgeräte steigen da aus.