Grundsatzdiskussion alte/neue Architektur

  • Es scheint mir ein bisschen platt und wohlfeil, jeden, der beim Auftauchen von Abrissbirne und Bagger nicht reflexhaft "Hurra, es geht was in unserer Stadt" ruft, sofort in die dumpf-biedere Fortschrittsverweigerer-Ecke zu stecken - aber nämliches widerfährt ja auch den S21-Gegnern, die nach meiner Erfahrung zu beträchtlichen Teilen (natürlich gibt's auch andere!) ihre ablehnende Haltung sehr prononciert (etwa mit bahntechnischen oder geologischen Argumenten) begründen können. Gegen Pauschalisierungen bin ich eben generell etwas allergisch...


    Mir (und auch anderen, ähnlich argumentierenden hier im Forum) geht's doch nicht drum, pauschal zu verdammen, was in jüngerer Zeit gebaut wurde und zukünftig gebaut werden soll. Was derzeit etwa beim "Gerber-Projekt" an der Paulinenbrücke geschieht, lässt sich recht vielversprechend an; anderes, bereits Gebautes zeugt, so wie das Z-up an der Heilbronner Straße, von gelungener Individualität. Doch es gibt eben - man denke nur an den gruseligste 60er-Jahre-Bahnhofsklo-Glausbausteinfassaden reminiszierenden Büchereineubau - auch genügend Beispiele, die grade in Stuttgart eine gewisse Grundskepsis geboten sein lassen.


    Es muss in jedem Einzelfall die prüfende Frage erlaubt sein, ob es einen wesentlichen Fortschritt darstellt, wenn ein vielleicht nur mittelmäßiger Altbestand gegen eine zunächst vielleicht schick und cool wirkende, bei genauer Betrachtung aber womöglich mindestens so belanglose und noch wesentlich austauschbarer wirkende Neubebauung ersetzt wird.


    Ich möchte das nochmals an einem plakativen Exempel verdeutlichen, das sicher viele im Forum zum Kopfschütteln:nono: veranlassen wird:
    Sollte dereinst eine komplette Neugestaltung des Stuttgarter Marktplatzes ins Auge gefasst werden, würde ich dafür plädieren, die derzeitige Bebauung zwischen Schul- und Münzstraße (Haufler, Kurz etc.) zu erhalten, weil sie (farblich abgestimmt und mit einer rekonstruierten Fenstergestaltung) meiner Meinung nach mehr positive Unverwechselbarkeit und Flair auszustrahlen vermag als jeder (wahlweise disneyhaft-historisierende oder ultra-trendige) Neuentwurf.


    Jedenfalls - dies zum Schluss - fielen mir in der Stuttgarter Kernstadt unzählige Punkte ein, an denen mir der Einsatz von Abrissbirne oder Sprengladung wesentlich sinnvoller und nötiger schiene als gerade beim Hotel Silber.

  • Hans Dampf
    Wieso schließe ausgerechnet ich die falschen Schlüsse aus der Ist-Situation? Der ausnahmslos einzige Weg ist für dich derjenige geradeaus zurück in die tiefste architektonische Vergangenheit.


    Wie ich schon geschrieben habe, ist die Vergangenheit geschehen. Die Häuser sind weggebombt und damals eben nicht wieder errichtet worden. Was soll uns das bitte bringen, wenn wir jetzt - nocheinmal ein halbes Jahrhundert später - plötzlich damit beginnen, irgendwelche billigen Imitate hinzustellen aus den "guten alten Zeiten"?


    Die Zeiten haben sich geändert, die Gesetze haben sich geändert und die Ansprüche haben sich geändert.


    Dass nur die moderne Architektur ihre Leuchttürme hat halte ich im Übrigen für ein Gerücht. Schau dir einfach mal mit offenen Augen die älteren Backstein-Gebäude an. Dann wirst du sehr schnell merken, dass viele wirken, als kämen sie von der Stange. Gleiches Muster, gleiche Grundfläche, gleiche Formen, ähnliche Verzierungen. Im Kern ist das die austauschbare Architektur aus den guten alten Zeiten.


    Überhaupt halte ich die Ansicht für etwas verwegen, dass eine Imitats-Architektur nicht auch grauselig aussehen könnte. Es ist ja nicht so, dass wir die Leute aus der Vergangenheit herbeamen können. Sprich, es wären heutige Architekten, die sich dann plötzlich in diesem Kitsch versuchen müssen. Ich wette, dass von diesen Gebäude nur ein Bruchteil unverwechselbar und erhaltenswert wären.


    Carina
    Ich finde es ja schön, dass du gegen Pauschalisierungen bist, aber dass deiner Meinung nach viele "reflexartig" der Abrissbirne zujubeln erscheint mir auch etwas pauschalisierend. Wäre das Hotel Silber ein Prachtbau wie das Haus der Wirtschaft, dann wäre ich auch gegen den Abriss. Aber das Hotel Silber ist eben kein solcher Prachtbau. Er ist ein Bau der 50er, in dem vermutlich die Überreste des Vorbaus mit eingearbeitet worden sind. Ich sehe absolut keinen Grund, das Gebäude zu erhalten. Bin ich deswegen ein reflexartiger Zujubler?
    Bzgl. des Marktplatzes sehe ich zwei Möglichkeiten: entweder bleiben die Gebäude so bestehen, werden aber von diesen furchtbaren 50er-Flair befreit oder die ganze Ecke wird plattgemacht. Inklusive Rathaus, Breitling und der Ecke vom Breuninger. Dann soll ein renomierter Architekt kommen und sich was dazu überlegen.

  • Hans Dampf
    Dass die Moderne ein derart schlechtes Image hat, darf sie sich getrost selbst zuschreiben.
    Was soll denn das sein, die Moderne? Ich weiß es: Dahinter versteckt sich in Wahrheit nur "Alles (ominöse) Neue" (spätestens nach 1945). Gerade diese leider häufig anzutreffende pauschale Neinsagermentalität lähmt die Stadt in ihrer Entwicklung, die trotz allen weit verbreiteten Selbstzerstörungs- und Bruddeltriebs in weiten Teilen der Bevölkerung noch immer die besten Anlagen hat, zu einer sehr lebenswerten, innovativen und einzigartigen Großstadt mit einem ansehnlichen Kern auch außerhalb des wunderbaren Schlossplatzes zu reifen.


    Es hilft ihr nicht zu mehr Ruhm, nur weil sie gelegentlich ganz Passables abwirft. Die Massentauglichkeit fehlt.
    Mit solchen Stammtischparolen kann ich selbst wenig anfangen. Ob Massentauglichkeit irgendein relevantes Kriterium darstellen sollte, vermag ich nicht zu beantworten.


    Es geht hier auch nicht um eine komplette Ablehnung moderner Funktionsarchitektur, es geht vielmehr um den Standort.
    Dann verstehe ich nicht, wie Du die gebaute Beton-Misere am Charlottenplatz heute ertragen kannst und im Ergebnis für den Status Quo plädierst. Ich kann das nicht. Genau das wird nämlich passieren durch den erzwungenen Erhalt des Hotel Silber, weil die Investoren wegbleiben. Richtig, es geht um den Standort. Die zentrale Achse hat Besseres verdient als das, inkl. Silber-Billigkopie.


    Carina Wagner
    Es scheint mir ein bisschen platt und wohlfeil, jeden, der beim Auftauchen von Abrissbirne und Bagger nicht reflexhaft "Hurra, es geht was in unserer Stadt" ruft
    Auch hier scheint leider der Stammtisch durchzugaloppieren. Es ist bei aufmerksamer Lektüre der vielen Beiträge hier im Thread und allgemein im Stuttgart-Forum sicher nicht schwierig heraus zu finden, dass durchaus differenziert wird. Ein "Alles Neue ist gut, alles Alte ist verabscheuens- und abrisswürdig" wirst Du hier nicht finden. Auch kann ich mir persönlich unabhängig von der Frage der Realisierungschancen im Einzelfall auch Rekonstruktionen in der Innenstadt vorstellen.


    Ginge es beim Hotel Silber um ein architektonisches Juwel oder wären da wirklich wesentliche Teile der Gestapo-Vergangenheit dokumentierbar, hätte die Diskussion einen ganz anderen Verlauf genommen. Nichts von dem liegt aber vor. Das kann doch nicht einfach ausgeblendet werden. Irgendwann schlägt Hartnäckigkeit dann doch in etwas Anderes um.


    Es muss in jedem Einzelfall die prüfende Frage erlaubt sein, ob es einen wesentlichen Fortschritt darstellt, wenn ein vielleicht nur mittelmäßiger Altbestand gegen eine zunächst vielleicht schick und cool wirkende, bei genauer Betrachtung aber womöglich mindestens so belanglose und noch wesentlich austauschbarer wirkende Neubebauung ersetzt wird.
    Die Frage ist erlaubt, die Antwort scheint jedenfalls für mich eindeutig: Man tausche nur den Behnisch-Entwurf mit dem scheußlichen Status Quo aus (im Übrigen hat ja der Gerber-Entwurf durchaus etwas Disneyland-haftes, auch wenn er in der Gesamtschau gefällt).


    Auch ist symptomatisch, dass trotz allen rhetorischen Firlefanzes allein die Kernaussage bleibt, dass der Behnisch-Bau (zumindest bei verschärfter Betrachtung) austauschbar und belanglos werden muss, zumindest aber das große, ja sehr große RISIKO hierfür besteht, da er ja - oh Wunder - ein Neubau sein wird und kein Bau, an dem man sich nun 60 Jahre gewöhnt hat bzw. gewöhnen musste.


    Jedenfalls - dies zum Schluss - fielen mir in der Stuttgarter Kernstadt unzählige Punkte ein, an denen mir der Einsatz von Abrissbirne oder Sprengladung wesentlich sinnvoller und nötiger schiene als gerade beim Hotel Silber.
    Das ist auch so ein Pseudoargument, das bei jedem größeren Stuttgarter Neubauprojekt garantiert in die Gebetsmühlen-Charts kommt. Glaubst Du, van Agtmael/Breuninger baut Segmüller neu, weil er dessen Hässlichkeit nicht erträgt, um Da Vinci dafür zu beerdigen?

  • Schwabenpfeil:
    Es ist eine Binsenweisheit, dass sich über Geschmack nicht streiten lässt: Dennoch (oder grade deshalb) würde mich zum besseren Verständnis interessieren, welche gestalterischen Elemente im konkreten Fall aus Deiner Sicht 'grottenhässlich' sind; dies ist ja doch ein sehr starkes Wort, das ich mir nicht mal im Falle der neuen Stadtbücherei - trotz deutlicher Gegnerschaft zu diesem Bau - anmaßen würde. Weite Teile der Architektur im Stuttgarter Westen weisen ähnliche gründerzeitliche Grundmerkmale auf wie das ehemalige 'Hotel Silber', müssten also folgerichtig ebenfalls verdammenswert sein. Was wiederum macht im Vergleich dazu das rührend schlicht gestaltete, architektonisch eigentlich höchst unbedeutende 'Louis Vuitton'-Gebäude (dieses hatte ich in der Tat gemeint) für Dich offenbar schöner, wertvoller?


    Es kann und soll nicht drum gehen, das Stuttgarter Zentrum in eine künstliche Kulissenaltstadt zurückzuverwandeln; diese irreale Forderung hat hier niemand erhoben. Das Herz einer Stadt sollte aber auch nicht nur ein Ort sein, an dem man gut parken und dann möglichst effizient seinen Shopping- und Bespaßungsbedürfnissen (sei es Club, Kino, Theater) nachgehen kann. Diejenigen, die hier immer so dezidiert auf Zukunftsfähigkeit, Wirtschaftskraft pochen, sollten sich im Klaren sein, dass weiche Standortfaktoren wie Image und Flair im Wettbewerb der Metropolen immer bedeutsamer werden. Daher sollte eine Stadt im Idealfall Plätze, öffentliche Räume aufweisen, an denen man sich gerne aufhält, die man gerne sieht und vielleicht auch anderen gerne vorzeigt.


    Ich will keinesfalls behaupten, dass moderne Architektur dies gar nicht zu leisten im Stande wäre, aber sie tut sich in sehr vielen Fällen (leider!) deutlich schwerer damit. Und offenkundig gibt es auch gewisse Schlüsselreize (Giebeldächer, Fachwerk- oder Steinfassaden, evtl. mit schmückenden Elementen und nicht zu monoton-großräumiger Strukturierung, Steinfassaden, Sprossenfenster) die bei einer beträchtlichen Zahl an Menschen ein gewisses Grundgefühl von Behaglichkeit und 'Aufgehobensein' auslösen. Und obwohl es viele hier (mit gutem Recht) anders sehen: Für einige vermittelt auch die reduziert wiederaufgebaute und mit etwas unglücklichen postmodernen Dachgauben versehene "Hotel Silber"-Fassade noch solch ein harmonisch-geordnetes Bild. Ein englischer Freund äußerte jedenfalls beim gemeinsamen Vort-Ort-Besuch in Stuttgart neulich tiefes Unverständnis über die Abrisspläne.
    Mag sein, dass dies alles schrecklich spießig-ewig-gestrig ist. Doch warum sitzt man im Sommer eben besonders gerne am Schlossplatz, am Schillerplatz, aber auch am Karlplatz oder beim Hans-im-Glück-Brunnen (letzterer übrigens eine Altstadtsimulation des frühen 20. Jahrhunderts!)?


    Ob angesichts dieser grundlegenden Erkenntnisse die Devise: Ist eh nix wertvolles mehr da, also "Stahl und Glas satt" zielführend ist, wage ich zu bezweifeln. Stuttgarts Strategie, sich nach dem Krieg konsequent ein modernes Gesicht zu geben, empfanden damalige 'Wutbürger' spätestens ab Mitte der 1970er-Jahren als lebensfeindlich, was seinen Ausdruck in Verballhornungen wie 'Kaputtgart' und "Großstadt zwischen Hängen und Würgen" fand. In der Folge entgingen (die zuvor auch als "grottenhässlich" erachtete) Markthalle sowie Teile der Calwerstraße und des Bohnenviertels dem eigentlich verfügten Abriss.


    Man verzeihe mir den Exkurs. Ich würde mich wahrscheinlich gar nicht so sehr am Beispiel 'Hotel Silber' abarbeiten, wenn ich den Fall nicht als Metapher für eine in Stuttgart nach meinem Gefühl generell wieder stärker werdende Spaltung zwischen Traditionalisten und bedingunglos Fortschrittsgerichteten sehen würde. Während sich die eine Seite für 'ihre' Stadt ein klassisches, anheimelndes Stadtbild zurückwünscht und mit einer für Außenstehende vielleicht manchmal unverständlichen Zähigkeit die letzten Ankerpunkte anderer Zeiten verteidigt, sehen auf der anderen Seite manche bedingungslos Fortschrittsgerichtete in jeder Veränderung per se fast schon einen Primärwert.


    Ich bin mir (dies zuletzt Wagahai) aber sehr wohl bewusst, dass die Realität grade in diesem Forum nicht schwarz oder weiß ist, wenngleich manche selbst auferlegte Verkürzung - ich neige ja schon genug zur Weitschweifigkeit:) - vielleicht einen anderen Eindruck erweckt haben mag. Logisch ist auch, dass Herr van Agtmael sein überreiches Füllhorn nicht ad libitum über der Stadt ausschüttet - doch Stuttgart besteht nicht nur aus Breuninger, und es werden wohl auch die pöhsen Grünen in Stadt und Land nicht ganz verhindern können, dass da und dort weiterhin Hauseigentümer und Investoren Kapital für die bauliche Weiterentwicklung Stuttgarts locker machen werden.
    Einem Herrn Behnisch wiederum sollte es prinzipiell zuzutrauen sein, seinen Entwurf gegebenenfalls auch unter Einbeziehung des Altbestandes zu adaptieren, ohne dass deshalb gleich das ganze Vorhaben unrentabel wird.

  • Carina
    "Es kann und soll nicht drum gehen, das Stuttgarter Zentrum in eine künstliche Kulissenaltstadt zurückzuverwandeln; diese irreale Forderung hat hier niemand erhoben."
    Lies mal die Beiträge von Hans Dampf. Seine Forderungen gehen genau diese Richtung.


    "Diejenigen, die hier immer so dezidiert auf Zukunftsfähigkeit, Wirtschaftskraft pochen, sollten sich im Klaren sein, dass weiche Standortfaktoren wie Image und Flair im Wettbewerb der Metropolen immer bedeutsamer werden."
    Auch wenn es wichtiger werden dürfte. Flair und Image kommen immer weit abgeschlagen nach harten Faktoren. Überhaupt dürfte Stuttgart aus Unternehmenssicht jetzt schon eine Menge Flair und Image durch die ganzen Blutgrätschen von allen Seiten verloren haben. Hand aufs Herz: hat Stuttgart noch das Image eines modernen Unternehmensstandortes mit Visionen? Nein.


    "Daher sollte eine Stadt im Idealfall Plätze, öffentliche Räume aufweisen, an denen man sich gerne aufhält, die man gerne sieht und vielleicht auch anderen gerne vorzeigt. Ich will keinesfalls behaupten, dass moderne Architektur dies gar nicht zu leisten im Stande wäre, aber sie tut sich in sehr vielen Fällen (leider!) deutlich schwerer damit."
    Ob dem so ist vermag ich nicht zu beantworten, denn Stuttgart hat derzeit einfach keinen öffentlichen Platz, der mehrheitlich von wirklich moderner Architektur mit wirklich moderner Ästhetik geprägt ist. In Stuttgart überwiegt der furchtbare 50er/60er-Jahre-Stil. Doch diesen architektonischen Stuss bezeichne ich nicht als modern.


    "Doch warum sitzt man im Sommer eben besonders gerne am Schlossplatz, am Schillerplatz, aber auch am Karlplatz oder beim Hans-im-Glück-Brunnen (letzterer übrigens eine Altstadtsimulation des frühen 20. Jahrhunderts!)?"
    Siehe meinen Punkt oben. Einen echten Gegenvergleich kenne ich in der City nicht wirklich, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass die Leute auch dann auf dem Schlossplatz wären, wenn er von moderner Architektur geprägt wäre. Erinnerst du dich noch an diese Billig-Treppe zum kleinen Schlossplatz?


    "Ist eh nix wertvolles mehr da, also "Stahl und Glas satt" zielführend ist, wage ich zu bezweifeln."
    Habe ich nie so gesagt. Mein Punkt war schlicht "moderne Architektur". Moderne Architektur ist nicht gleich "Stahl und Glas". Siehe Tadao Ando. Grundsätzlich sehe ich eben kein Ziel darin, architektonisch plötzlich in die "guten alten Zeiten" zurückzubauen. Diese Zeiten sind vorbei. Endgültig. Sollten wir nicht langsam mal einmal einen Weg finden, um unsere eigene Formensprache zu finden? Wenn wir in der Kunst auch so vorgegangen wären...
    Überhaupt frage ich mich immer wieder, wie Unternehmen ab 50 Mitarbeitern in kleine Fachwerkhäuser einziehen und diese sinnvoll nutzen sollen.


    "[...] sehen auf der anderen Seite manche bedingungslos Fortschrittsgerichtete in jeder Veränderung per se fast schon einen Primärwert."
    Verstehe ich nicht ganz, denn du selbst willst doch die Veränderung. Nur eben in die andere Richtung. Eine Veränderung ist es trotzdem.
    Das mit dem Traditionalismus in allen Ehren, aber mir erscheint das eher als Ausrede von vielen zu sein, um gegen alles nach 1920 zu sein, sprich die so gemein-böse Moderne, die uns ja von vielen Seiten ja ständig und immer wieder madig gemacht wird. Dass früher eben doch nicht alles besser war (z.B. war die Umwelt in Deutschland bis vor ein paar Jahrhunderten wirklich zerstört (komplett Entwaldet, keine Tiere mehr)), das will den meisten irgendwie doch nicht aufgehen.


    "und es werden wohl auch die pöhsen Grünen in Stadt und Land nicht ganz verhindern können, dass da und dort weiterhin Hauseigentümer und Investoren Kapital für die bauliche Weiterentwicklung Stuttgarts locker machen werden."
    Na dann können wir ja beruhigt sein, dass es die Grünen nicht ganz schaffen werden, oder? Größere Projekte oder Großprojekte wird es aber fürs erste wohl nicht mehr geben. Aber das scheint ja nichts auszumachen.
    Im Übrigen wäre die Umgestaltung der halben City hin zu Fachwerkshäuschen auch ein Großprojekt. Eines, das übrigens nur durch Enteignung funktioniert, denn die Besitzer werden freiwillig bei diesem Spuk wohl nicht mitmachen. Aber da wären wir wieder bei dem bösen Kapitalismus.

  • Wagahai


    Was soll denn das sein, die Moderne?
    Tut mir leid, wenn du mit den Begrifflichkeiten nichts anfangen kannst. Wikipedia ist zwar mit Vorsicht zu genießen, dennoch kannst du dort mal nachschauen. Ich helfe dir sogar dabei: http://de.wikipedia.org/wiki/Moderne_%28Architektur%29 ;)


    Mit solchen Stammtischparolen kann ich selbst wenig anfangen.
    Ich weiß nicht, ob es im Sinne dieses Forums ist, mit derartigen Vorwürfen aufzuwarten. Ich kann dir die Frage nach der fehlenden Massentauglickeit mit einem eindeutigen "Ja" beantworten. Sehen wir uns doch mal die gegenwärtigen Bausituationen an: dort wo Politik oder Großinvestoren Hand anlegen wird meist in Glas, Stahl und Beton gebaut. Modern, klare Linien, aber eben auch austauschbar. Dort, wo die Bevölkerung um Mitsprache kämpft und auch erhält sieht die Sache ganz anders aus: Frauenkirche, Dresdner Neumarkt, Frankfurter Altstadt oder wenngleich keine Rekonstruktionen, sei das Beispiel der "Townhouses" in Berlin angeführt: Klassische Formensprache, indiviuelle Fassadengestaltung, Einsatz hochwertiger Materialien. Die Frage, was die Bürger selbst für tauglich erachten die eigene Stadt zu schmücken, dürfte also recht eindeutig zu beantworten sein.


    Dann verstehe ich nicht, wie Du die gebaute Beton-Misere am Charlottenplatz heute ertragen kannst und im Ergebnis für den Status Quo plädierst.
    Nein, das tu ich nicht. Ich spreche mich in erster Linie für den Erhalt des Hotel Silber aus. Die Diskussion hat nur mittlerweile ein flächenmäßig größeres Ausmaß angenommen.


    Ich möchte noch kurz auf einen kleinen Artikel hinweisen. Vielleicht verstehen manche, dass man etwas viel einfacher nehmen kann, wenn man auch etwas gibt. Für die Seele der Stadt und der Einwohner:
    http://www.welt.de/print/die_w…mage-an-das-Hochhaus.html

  • Da allgemeines "Linken-Bashing" (meine ich nicht nur im engeren Sinne auf die Partei gleichen Namens bezogen) hier im Forum ja salonfähig ist, erlaube ich mir, mich in den "anschwellenden Bocksgesang" (copyright B. Strauss) einzureihen - allerdings etwas über die Bande gespielt:D:


    So wie man dort bezüglich des real existierenden vs. des idealen Sozialismus argumentiert ("Klar, DDR, Sowjetunion etc. war nix, aber prinzipiell wär' das System 'ne tolle Sache"), erscheint mir auch hier mancher Apologet in seiner unbeirrbaren Fortschrittsgläubigkeit widersprüchlich: "OK, 50er bis 70er haben bauästhetisch nur Schrott produziert, A1-Quartier, neue Bücherei etc. taugen natürlich auch nichts, der Rest wirkt eher mittelmäßig, aber im Prinzip ist moderne Architektur ja trotzdem was ganz tolles..."


    Sorry - das war jetzt äußerst polemisch, im Vergleich natürlich hinkend und deckt sich in dieser Verallgemeinerung auch keinesfalls mit meiner persönlichen Sichtweise. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass ich angesichts mancher in Stuttgart real existierenden oder vor der Realisierung stehenden Planungen die Skepsis vieler Bürger und ihren Wunsch nach Rückgriff auf traditionelle Formen zumindest verstehen kann und da und dort vielleicht auch teile. Ganz generell scheine ich aber bezüglich architektonischer Ausdrucksvielfalt ein weiteres Herz zu haben als einige andere hier, und so schätze ich die (leider in vielen Details inzwischen verunstaltete) Liederhalle ebenso wie Scharouns "Romeo und Julia" und habe z.B. auch gelernt, mich mit dem Landtagsgebäude, dem ich früher wenig abgewinnen konnte, anzufreunden.


    Ich weiß aber nicht, ob ich mich in einer komplett von Peter Zumthor, Zaha Hadid oder auch Stefan Behnisch gestalteten Stadt wohlfühlen würde. So wie radikal neue klassische Musik eingeweihte Avantgardezirkel selten verlässt - (oder hört hier jemand regelmäßig und mit Leidenschaft Wolfgang Rihm und Helmut Lachenmann?) -, wird auch aktuelle Architektur ohne jeden Traditionsbezug zumindest in zentrumsnahen Lagen dauerhaft wenig Akzeptanz finden. Sei es die klassisch gegliederte Steinfassade des Phoenixbaus, das Eckgebäude im Boschareal mit dem von Mendelsohn (Kaufhaus Schocken) entlehnten Treppenturm oder die verklinkerte, mit Bauhaus-Fensterbändern versehene EVS-Hauptverwaltung: Bei Entwürfen, die (auch hier im Forum) breiteren Zuspruch erhalten, kann man verdächtig oft feststellen: "Hat Anklänge von..., erinnert an..., verwendet klassische Materialien...", und es ließe sich jetzt sicher trefflich darüber streiten, ob das nun eine Bankrotterklärung für unsere Gesellschaft oder aber für eine jeglicher Tradition entsagen wollende moderne Baukunst ist.


    Ich bin der festen Überzeugung, dass urbane Architektur weit über ihren Gebrauchs- und Nutzwert hinaus (Nach dem Motto: Man muss Stuttgart ja nicht mögen, Hauptsache wir gelten weiterhin als modern und innovativ und es geht wirtschaftlich was) stets auch wichtige kulturelle, historische und emotionale Besetzungen erfährt, die sich nicht einfach wegdiskutieren lassen.
    Grade in Stuttgart, das stadtgestalterisch in den letzten 60 Jahren heftig gebeutelt wurde, sollte das Augenmerk auf ein gedeihliches Neben- und Miteinander von Geschichtsbezogenem (so noch vorhanden) und Neuem - je nach Ort eher ergänzend oder kontrastierend - gerichtet werden.


    Zum Hotel Silber fällt mir zuletzt noch eine Analogie ein, die damals weniger wahrgenommen und kaum diskutiert wurde, weil beim betreffenden Gebäude kein 'Nazi-Bezug' vorhanden war: Am Beginn der Königstraße beim Wlhelmsplatz hatte sich ein einzelner Altbau (das in Blickrichtung Schlossplatz linke Eckgebäude) über die Zeit gerettet; allerdings ebenfalls in einer reduziert wiederaufgebauten Form. Es wurde vor einigen Jahren recht sang- und klanglos zugunsten eines schicken, aber eben auch völlig belanglos-beliebigen Neubaus mit Glaserker ersetzt. So unbedeutend das Vogängergebäude auch gewesen sein mag - ich bedauere seinen Abriss bis heute, weil es (in etwas aufgehübschter Form) einen schönen Kontrast und Akzent gegenüber dem umliegenden Neubestand gebildet hätte...

  • Da allgemeines "Linken-Bashing" (meine ich nicht nur im engeren Sinne auf die Partei gleichen Namens bezogen) hier im Forum ja salonfähig ist


    Eine mehr als sinnlose Politisierung würde ich gerne vermeiden, danke.


    "OK, 50er bis 70er haben bauästhetisch nur Schrott produziert, A1-Quartier, neue Bücherei etc. taugen natürlich auch nichts, der Rest wirkt eher mittelmäßig, aber im Prinzip ist moderne Architektur ja trotzdem was ganz tolles..."


    Falls du dich auch auf meine Posts beziehst dann muss ich ein großes "Moment mal" einwerfen. Persönlich empfinde ich die Architektur in großen Teilen bis sogar in die 90er Jahre hinein als furchtbar, erst in den letzten zwanzig Jahren haben wohl durch bessere Methoden und Techniken die Gebäude langsam wieder eine annehmbare Qualität erreicht.


    Ich bin also keineswegs ein "Apologet in seiner unbeirrbaren Fortschrittsgläubigkeit" (wieder mit dem Stammtisch durchgegangen?). Wogegen ich aber absolut und auch unbeirrt dagegen bin, ist eine plötzliche Rückkehr zu den scheinbar "guten alten Zeiten". Die Vergangenheit hat gebäudemäßig auch nicht nur Großartiges produziert. Die moderne Architektur schafft auch nicht immer nur Juwelen. Aber deswegen gleich nicht nur ein Vollbremsung, sondern sogar noch vierzig Schritte rückwärts zu machen (siehe Hand Dampf) halte ich persönlich eben für absoluten Blödsinn.


    So wie radikal neue klassische Musik eingeweihte Avantgardezirkel selten verlässt


    Ich würde moderne Architektur eher mit Electronic Music oder Pop-Musik vergleichen. Richtig avantgardistische Architektur im Sinne der von dir genannten Komponisten würde ich eher unter der Kategorie Dekonstruktivismus einordnen.


    Bei Entwürfen, die (auch hier im Forum) breiteren Zuspruch erhalten, kann man verdächtig oft feststellen: "Hat Anklänge von..., erinnert an..., verwendet klassische Materialien..."


    Wie habe ich es vor einigen Posts schon einmal formuliert? Klassische Formen kann man immer gerne aufgreifen und modern interpretieren. Da bin ich mit dir absolut einer Meinung. Aber noch einmal: wogegen ich bin ist eine reine Imitationsarchitektur, die nichts weiter kann, als Ideen und Formen bis 1920 zu wiederholen oder zu kopieren. Zwischen diesen beiden Feststellungen liegen Welten und ich halte letzteres für schlicht für einen falschen Schritt. Die Kunst in Form der Malerei beispielsweise ist ja auch nie stehen geblieben.


    Im Übrigen halte ich auch den Vorwurf, dass moderne Architkektur balanglos sei als irreführend. Würde ganz Stuttgart aus klassischer Architektur à la Paris bestehen und heute immer noch ausschlißlich so gebaut werden, dann wären diese Neubauten genauso belanglos, weil sie absolut nichts Neues zu bieten hätten. Tausendmal gesehen, tausendmal imitiert. Und nur weil etwas hübsch anzusehen ist, ist etwas noch lange nicht relevant. Ansonsten wäre die Modeindustrie die relevanteste Industrie im ganzen Universum.


  • Carina
    Stuttgart wurde im zweiten Weltkrieg absolut verwüstet, insbesondere die Innenstadt. In meinen Augen ist die historische Architektur mit diesem tiefen Einschnitt quasi beendet. [...]


    Soll das jetzt ein Freibrief sein, den verbliebenen Rest der nach belieben zu zerstören? -dann No comment und das mit deinem Nickname ist klar.
    Zudem empfehle ich einmal mit offenen Augen durch Stuttgart zu gehen. Es gibt durchaus noch genug, aus dem sich was machen läßt- so man will.




    Und wer allen Ernstes glaubt, die moderne Architektur bringe nichts zustande, der möge doch bitte mal zum Wittwer oder Hugendubel gehen und sich ein paar Bücher über moderne Architektur besorgen. Dann sprechen wir weiter.


    Ich habe solche Bücher schon lange in meinem Regal. Deshalb weis ich auch, daß man von der Architektur mehr fordern kann, als das womit Stuttgart gerade abgespeist werden soll.

  • Gewiss: Kontraste können reizvoll sein; doch von Bewohnern wie Besuchern werden eben überwiegend jene Orte und Plätze als positiv und mit hoher Aufenthaltsqualität wahrgenommen, die Geschlossenheit und Harmonie vermitteln.


    Dazu ein Stuttgarter Beispiel: Direkt neben der Stiftskirche, an der Stiftsstraße beim Übergang Richtung Schillerplatz steht ein kleines, zweistockiges Geschäftshaus - ein schlichter Nachkriegsbau, völlig unspektakulär, bei dem man aber seinerzeit durch Ziegeldach und Sprossenfenster etwas Altstadt zu simulieren versucht hat.


    Carina, meinst du das Haus im Vordergrund rechts?



    Das sehe ich genauso. Es sind die kleinen Dinge mit großer Wirkung. Wobei ich finde, daß in dem Bereich ab Stiftskirche die Architektur so langsam anfängt ihren eigenen Reiz zu entwickeln, mit dem sich durchaus eine Aufenthalstqualität erreichen liese. Dabei denke ich mehr an die "Straßengestaltung" die das heute zum wenig attraktiven Bereich macht.

    Einmal editiert, zuletzt von Ing22 ()

  • @ Ing22


    Ich habe solche Bücher schon lange in meinem Regal. Deshalb weis ich auch, daß man von der Architektur mehr fordern kann, als das womit Stuttgart gerade abgespeist werden soll.


    Und wer steht in diesen Büchern drin? Wer macht denn die spannenden Entwürfe? Um mal die m.E. bedeutendsten und bekannstesten der heutigen Zeit zu nennen: Zaha Hadid, Norman Foster, Frank Gehry, Calatrava...und es gibt auch genug Jungarchitekten mit Potenzial. Wollen die Stuttgarter die haben? Nein, siehe z.B. weiter oben irgendwo zu Zaha Hadid. Also muss man eben auf die Kleiderstangenarchitekten zurückgreifen und damit leben, dass alles gleich aussieht.


    Das einzige Gebäude Stuttgarts von einem bekannten Architekten, die Staatsgalerie, war lange mächtig umstritten. Heute will sie, glaube ich zumindest, niemand mehr missen.


    Schonmal darüber nachgedacht, dass die heute so geliebte Jugendstilarchitektur zu ihrer Zeit auch neu und modern war? Vielleicht waren die Bürger damals auch so geschockt davon, wie man es heute offensichtlich auch ist. Wer weiß, in 100 Jahren ist die neue Bibliothek vielleicht der Leuchtturm der Architektur des 21. Jahrhunderts :)


    Aber der Vergangenheit mit ihren ach so tollen Jugendstil Meisterwerken nachzutrauern ist lächerlich. Genau wie die Forderung, die Stuttgarter Altstadt zu rekonstruieren. Damit wäre das 21. Jahrhundert für die Menschen in 100 Jahren was die Architektur betrifft gesichtsloser denn je.


    Nun stellt sich natürlich die Frage, muss man heute ein Opernhaus von Gehry in die Landschaft stellen, nur um den Menschen in 100 Jahren zu zeigen, wie damals das empfinden von Ästhetik aussah? Ja, muss man. Nicht nur, weil seine Opernhäuser und Museen m.E. zu den beeindruckendsten Gebäuden zählen, sondern auch, weil Architektur Kunst ist, diese Opernhäuser sind die großen Skulpturen der Moderne.

  • Soll das jetzt ein Freibrief sein, den verbliebenen Rest der nach belieben zu zerstören? -dann No comment und das mit deinem Nickname ist klar.
    Zudem empfehle ich einmal mit offenen Augen durch Stuttgart zu gehen. Es gibt durchaus noch genug, aus dem sich was machen läßt- so man will.


    Kann es sein, dass du meine Beiträge weiter oben nur vom Hörensagen mitbekommen hast?


    Hier ist jetzt meine Kernaussage also zum dritten Mal: wogegen ich bin ist die Rückkehr der Architektur in die "guten alten Zeiten", so wie es gerade Hand Dampf gefordert hat. Deswegen bin ich nicht automatisch für den kompletten Abriss aller alten Gebäude in Stuttgart. Oder habe ich irgendwo angedeutet, dass ich das Haus der Wirtschaft beispielweise platt machen will?


    Ich habe solche Bücher schon lange in meinem Regal. Deshalb weis ich auch, daß man von der Architektur mehr fordern kann, als das womit Stuttgart gerade abgespeist werden soll.


    Ganz deiner Meinung, aber da bei uns im Kessel immer die langweiligeren Entwürfe gewählt werden, ist das eben ein Stuttgarter Problem, kein Problem der modernen Architektur (siehe auch Marcos Post). Dieser feine Unterschied ist klein, aber wichtig.

  • Marco hat aus meiner Bemerkung zu Zaha Hadid sofort den generalisierenden Einwurf abgeleitet, die (spießigen) Stuttgarter wollten solch eine Koryphäe der Baukunst eben nicht haben und würden deshalb (zur Strafe) mit Dutzendware abgespeist.


    Erstens bin ich gar keine Stuttgarterin (mehr) und würde mir sowieso nie anmaßen, mit meiner unmaßgeblichen Einzelmeinung für "die Stuttgarter" zu sprechen. Zweitens sollte man Texte auch genau lesen: Ich habe weder grundsätzlich etwas gegen Hadids Architektur - im Gegenteil -, noch würde ich es generell ablehnen, dass sie in Stuttgart baut. Wäre der Entwurf der neuen Stadtbibliothek von ihr, hätten wir höchstwahrscheinlich weniger Grund zum Gram.
    Meine Aussage war vielmehr, dass ich zweifle, ob ich mich in einer Stadt, die nur aus extrovertierten Solitärbauten im Stile von Zaha Hadid o.ä. besteht, wohl fühlen würde.


    Würde es nicht komplett off-topic vom Tema dieses threads wegführen, könnte man an dieser Stelle trefflich eine ästhetische Grundsatzdiskussion darüber beginnen, was denn überhaupt Maßstab, Ziel und Zweck einer modernen urbanen Architektur sein sollte. Funktionalität? Zweifellos, doch dann wird's schon schwieriger:
    Selbst Schwabenpfeil als überzeugter Apologet der Moderne benutzt den eigentlich banalen Terminus "gefallen" als ein Entscheidungskriterium für seine Werturteile, und madmind vergleicht neue Architektur gar mit Popmusik, die ja (Ausnahmen bestätigen die Regel) das Populär-Gefällige (und teils auch bestürzend Kommerzielle) schon im Wort in sich trägt. Radikalere Verfechter neuer Bauformen würden da sicher einwenden, es sei bereits ein grandioses Missverständnis, wenn man an zeitgemäße Architektur überhaupt mit solchen Erwartung herangehe. Eun Young Yi argumentiert bei der Erklärung seines gestalterischen Ansatzes für die Bibliothek zum Beispiel genau mit solchen oberflächliche Ästhetik negierenden Begrifflichkeiten, wenn er von Introvertiertheit, Innerlichkeit etc. spricht.


    Die Crux bei dieser Denk- und Sichtweise ist wahrscheinlich folgende: Der gemeine Durchschnittsmensch mag sich im Stadtbild wohl nicht auf Schritt und Tritt mit den persönlichsten Befindlichkeiten und der Innenwelt der Baumeister konfrontiert sehen. Am Ende urteilen die meisten eben doch wieder in gängig-greifbaren Rubriken von "gefällt mir", "ist interessant", "abwechslungsreich", "schön".


    Keiner - sicher auch Hans Dampf nicht - erwartet ernsthaft von der heutigen Architektengeneration, dass sie nur noch Fachwerkhäuser, gründerzeitliche Stadtvillen oder neogotische Kommunalgebäude entwirft. Es lohnt sich aber meiner Ansicht nach schon, darüber nachzudenken, was uns an gewissen Straßenzügen, Platzgestaltungen oder auch nur gestalterischen Merkmalen und Grundprinzipien verschiedener Zeiten und Stile anspricht und was vielleicht eher nicht. Überdies ist vieles auch eine Frage des Kontextes: Manches Gebäude, das am einen Ort eine enorme Bereicherung darstellt, wird an anderer, sensibler Stelle schnell zum bösen Fehlgriff. Ohne gleich plumpe Imitation zu evozieren, vermag der kritisch-vergleichende Blick in die Architekturgeschichte also durchaus erhellend zu sein.

  • und madmind vergleicht neue Architektur gar mit Popmusik, die ja (Ausnahmen bestätigen die Regel) das Populär-Gefällige (und teils auch bestürzend Kommerzielle) schon im Wort in sich trägt.


    Ich bin jetzt ein wenig verwirrt. Die klassiche Architektur ist doch mit ihren unzähligen Verzierungen und Schnörkeln auch eine teilweise extrem populär-gefällige Sache. Aber die findest du ja gerade so hübsch.


    Eun Young Yi argumentiert bei der Erklärung seines gestalterischen Ansatzes für die Bibliothek zum Beispiel genau mit solchen oberflächliche Ästhetik negierenden Begrifflichkeiten, wenn er von Introvertiertheit, Innerlichkeit etc. spricht.


    Moment, jetzt bin ich schon wieder verwirrt. Vielen Leute gefällt doch die neue Bibliothek nicht, dir ja auch nicht ("man denke nur an den gruseligste 60er-Jahre-Bahnhofsklo-Glausbausteinfassaden reminiszierenden Büchereineubau"). Aber das Gebäude ist doch unkommerziell und vermeidet bewusst jede Form der Gefälligkeit durch die Reduktion auf das absolut Notwendigste. Aber das scheint ja auch nicht in Ordnung zu sein. Ist die Ungefälligkeit also nur dann erwünscht, wenn sie dabei Gefällig ist?
    (Ach ja: Wenn wir in der Musk bleiben, würde ich das Gebäude am ehesten mit Ambient Music vergleichen.)


    Am Ende urteilen die meisten eben doch wieder in Rubriken von "gefällt mir", "ist interessant", "abwechslungsreich".


    Also ist mein Vergleich mit dem gefälligen Pop absolut zutreffend, oder?


    was uns an gewissen Straßenzügen, Platzgestaltungen oder auch nur gestalterischen Merkmalen und Prinzipien anspricht und was vielleicht eher nicht.


    Was bedeutet das konkret? Gestalterische Prinzipien bedeuten nicht automatisch, dass man Fachwerk verwendet oder überbordende Fassadenverzierungen. Gestalterische Prinzipien sind z.B. der goldene Schnitt, Drittelung, Kontraste usw. Die Prinzipien sind also zu einem gewissen Grad losgelöst von der konkreten Form, da der goldene Schnitt beispielsweise bei prinzipiell allem angewendet werden kann und nicht nur bei Fachwerk funktioniert (wenn er denn dort zur Anwendung gekommen ist).

  • @ Carina


    Marco hat aus meiner Bemerkung zu Zaha Hadid sofort den generalisierenden Einwurf abgeleitet, die (spießigen) Stuttgarter wollten solch eine Koryphäe der Baukunst eben nicht haben und würden deshalb (zur Strafe) mit Dutzendware abgespeist.


    Ich habe mit meinem Einwurf zu Hadid nicht dich persönlich gemeint, sorry wenn das falsch rüberkam. Mir ging es eher darum das sie Stuttgarter ein von Hadid entworfenes Gebäude sofort wieder als zu modern, passt nich zu Stuttgart etc. abtun würden.


    Versteht mich nicht falsch, ich will nicht das alle Gebäude in Stuttgart von einem Internationalen Stararchitekten entworfen werden. Dazu ist Stuttgart a) zu klein und b) zu wenig New York oder Paris (man stelle sich nur die Proteste vor, wenn in Stuttgart ein Gebäude wie das Centre Pompidou gebaut würde...).


    Zum Großteil ist dieser Hang zu monotoner moderner Architektur auch einigen Betonköpfen im Rathaus geschuldet. Allen voran natürlich unser Baubürgermeister Hahn. Wenn ich nur daran denke was er damals aus dem wirklich spannenden Entwurf für die LBBW Immo Zentrale gemacht hat.


    was denn überhaupt Maßstab, Ziel und Zweck einer modernen urbanen Architektur sein sollte. Funktionalität? Zweifellos, doch dann wird's schon schwieriger:


    Es werden ja bei weitem nicht alle heutigen Büro- oder Wohngebäude als hypermoderne uns außergewöhnliche Architektur gebaut. Im Gegenteil, diese Art der Architektur findet man fast ausschließlich bei representativen Gebäuden wieder. Und die dürfen eben gerne mal ein wenig nicht funktionaler sein. Um nochmal auf das Centre Pompidou in Paris zu bekommen: dieses Gebäude ist für mich ein perfektes Beispiel zwischen moderner (wenn auch aus den 70ern) und funktionaler Architektur. Alle Versorgungsleitungen wurden nach außen an die Gebäudehülle verlegt, um im Inneren den größtmöglichen Platz für Kunst und Kultur zu bieten.

  • Man verzeihe mir; ich als 'Frischling' hatte übersehen, dass es hier im Forum offenbar gerne gesehen wird, wenn man sich sofort in eindeutiger Weise positioniert, auf dass man von den 'alten Hasen' angemessen rubrifiziert werden kann; so ganz nach dem Motto: Bekenne dich - bist du ein zukunftszugewandter, fortschrittsgläubiger Freund alles Neuen und Modernen oder aber ein fachwerk- und butzenscheibenseliger, innovationsverhindernder Ewiggestriger?


    Insgeheim bewundere ich ja diejenigen, die zu allem und jedem sofort eine festgefügte, unerschütterliche Pauschalmeinung haben: Sei es zu Stuttgart 21, der Architektur der 50er oder über die Vertreter und Anhänger bestimmter Parteien. Das Denken in solchen Schubladen macht das Leben sicher in vielen Punkten leichter und überschauberer. Mir gelingt dies leider nur gelegentlich, weil ich die lästige Angewohnheit habe, verschiedene Denk- und Sichtweisen einzunehmen und das eigene Irren stets mit einzukalkulieren - ob's eine Folge meines schwachen Geschlechts ist?:D


    Nehmen wir nochmals das Beispiel der neuen Stadtbibliothek: In der Tat spricht mich das Gebäude bei meinem derzeitigen Kenntnisstand - (es ist noch nicht ganz fertig, ich war noch nicht drin und es fehlt auch noch der städtebauliche Kontext) - überhaupt nicht an, und mit "ambient" vermag ich das Ganze nur schwer zu verknüpfen; vielleicht eher noch mit minimal music. Ich kann aber doch trotzdem versuchen, die gedankliche Ansatzweise des Architekten einzubeziehen und zu verstehen. Mag sein, dass ich in ein paar Jahren eine deutlich andere Haltung zu dem Entwurf einnehme als heute; nichts finde ich langweiliger und bedenklicher, als wenn man über Jahre nur festgefügte Positionen vertritt und nicht auch bereit ist, eigene Urteile gegebenenfalls zu revidieren.


    Mein Impetus im letzten Beitrag war eigentlich nur, eine Diskussion darüber anzustoßen, welche Kriterien denn städtische Architektur (ich meine hier bewusst nicht den Solitär auf der grünen Wiese oder im Industriegebiet) generell erfüllen muss, um als gelungen betrachtet zu werden. Verknüpft hatte ich das mit einem gewissen Erstaunen darüber, dass offenbar auch starke Verfechter einer modernen Architektursprache wie Schwabenpfeil und madmind in Kategorien von Popularität und Gefallen denken, obwohl man (ich nehme jetzt die Perspektive radikalerer Modernisten ein) eigentlich annehmen könnte, dass sie derartig im Oberflächlichen verhaftete Begrifflichkeiten eher als spießig-verstaubt ablehnen.


    Ich gestehe freimütig, dass ich im Bezug auf Architektur teilweise eine ambivalente Haltung bei mir konstatiere, die mich in einigen Fällen schwanken lässt und die es anderen - sorry, madmind - ganz schwer macht, mich passend einzusortieren.
    Auf der rationalen Ebene bin ich durchaus ein Freund und Verfechter moderner Architektur, gehe etwa offen und teils durchaus begeistert durch die wachsende Hafencity, so oft ich in Hamburg bin und würde auch dieses Stuttgart-Forum nicht so aufmerksam verfolgen, wenn mich Neues Bauen langweilen oder gar abstoßen würde. Bei manch Kühnerem, etwa dem Centre Pompidou (danke für das Beispiel und die Reaktion, Marco!), habe ich mir eine differenzierende Haltung erarbeitet, finde derartige Entwürfe auch spannend, würde sie allerdings nicht in jedem Kontext (etwa am Karlsplatz) begrüßen.


    Auf der anderen, emotionalen Seite kann ich aber nicht verhehlen, dass mich die klassisch geprägten, mit Augenmaß weiterentwickelten europäischen Stadtbilder (etwa auch meiner neuen Heimat München) enorm faszinieren und ich mich dann immer frage, ob und wie etwas von diesem Ansprechenden auch für die Stuttgarter Innenstadt wiedergewonnen werden könnte. Bevor jetzt gleich wieder die 'Fachwerk-Butzenscheiben-Disneyland-Keule' kommt: Nein, das muss nicht automatisch heißen, historische Architekturstile sklavisch zu imitieren. Entsprechend war auch mein (durchaus fragend gemeinter) Hinweis auf allgemeingültige Gestaltungsprinzipien gemeint.


    Historische Gebäude sind nicht per se hochwertig, und man kann bei einem Bau wie dem "Haus der Wirtschaft" (oder auch dem Hotel Silber in seiner ursprünglichen, etwas schnörkelig-überladenen Form) durchaus darüber streiten, ob es sich dabei um gute Architektur handelt. In der Nachkriegszeit galt all das Gründerzeitliche, Klassizistische und Neogotische als ausgesprochen minderwertig, und mancher bedauerte offen, dass der Krieg grade davon (z.B. im Westen) so viel übrig gelassen hatte. Und doch vermitteln die redseligen Fassaden früherer Epochen für viele (und ich gestehe: auch für mich) ein besonderes Gefühl von Vertrautheit und Ästhetik, das man nicht missen möchte. Ist es nur ein Relikt kleingeistigen Spießertums, das man bei entsprechendem geistigen Horizont und genügender Aufgeschlossenheit für Neues leicht hinter sich lassen kann und muss, oder steckt doch mehr und Grundsätzlicheres dahinter? Vielleicht weiß jemand eine Antwort...

  • @ Carina


    Was mich betrifft, ja, ich bin keinesfalls ein Verfechter moderner Architektur, im Gegenteil, ich liebe klassische Architektur der Jahrhundertwende, die etwas überladenen Jugendstil/klassizistischen/Barock-Gebäude.


    Ich halte lediglich nichts davon, solche Gebäude zu rekonstruieren. Denn es sind und bleiben Rekonstruktionen und haben, bis auf die Fassade, nichts mit der Architektur von damals zu tun. Es gibt zwar gute Beispiele von (sinnvollen) Rekonstruktionen (Frauenkirche Dresden, Neues Schloss Stuttgart...), aber einfache Wohngebäude im Jugendstil zu rekonstruieren ist für mich (du hast es so nett ausgedrückt) Disney Land Architektur. Das ist genau so, wie wenn man z.B. einen Van Gogh kopiert: es sieht zwar aus wie einer, ist aber doch nur eine Kopie.


    @ Schwabenpfeil


    Am Centre Pompidou gefällt mir die klare Formensprache. Ein Quader der ausschließlich von den Panorama Rolltreppen durchbrochen wird.


    Der beste Satz in dem von dir verlinkten Wikipedia-Artikel ist dieser: "Die dadurch entstehenden Streifenmuster können auf empfindliche Personen als Migränereiz wirken." Super für ein Krankenhaus ;)


    Ein paar Beispiele zu moderner / klassischer Architektur aus Paris (merkt man, das Paris meine Lieblingsstadt ist?) :)


    Die Citroen Showrooms auf der Champs Élysées sind m.E. ein gelungenes Beispiel für die Verbindung von klassischer und moderner Architektur:




    La Défense:






    Grande Arche


    Der Stadtteil fügt sich durch die konzentrierten Hochhäuser zwar sehr gut in die Stadt ein, Eiffelturm, La Dèfense und Triumphbogen bilden ein Dreieck, die Grande Arche das Gegenstück zum Triumphbogen und der Abschluss der Sichtachse zwischen beiden Gebäuden.


    Der Stadtteil hat jedoch ein Problem: Er ist am Wochenende, hauptsächlich Sonntags (meine Bilder entstanden Sonntags) nahezu Tot. Die Aussichtsplattform auf der Grande Arche ist geschlossen, die Büroturme leer. Genau das wird ja in den neuen Stadtteilen Stuttgarts auch befürchtet, diesen Fehler dürfen die Stadtplaner keinesfalls machen.


    Eines der schönsten Gebäude in Paris ist m.E. das 1900 erbaute Grand Palais. Hier kann man zwar nicht unbedingt von Verbindung zwischen modern und klassisch sprechen, der Dachaufbau ist aber für ein klassizistisches Gebäude sehr ungewöhnlich. Die Disney Land Treppe passt da natürlich perfekt dazu :)






    Bilder: Marco