Grundsatzdiskussion alte/neue Architektur

  • Ich schätze mal, mit dem "amerikanischen Stadtmodell" ist das gemeint, was hierzulande in den 60er und 70er Jahren als "autogerechte Stadt" lief?

  • Ich habe die Begriffe öfter Mal gehört, aber als ich nachhakte und Konkreteres hören wollte, wurde in der Regel gekniffen oder in Mystik abgeglitten.


    Ich denke, dass da begrifflich und sachlich ein bisschen was durch einander geht und wäre froh um etwas Aufklärung.


    Zum Leitbild der funktionalen & autogerechten Stadt


    Die schillernde Figur hierbei, Le Corbusier, ist aber Schweizer, und kein Amerikaner ;) .


    Wo sind unsere Experten?

  • @ stativision


    Marseille? Hoher Anteil an Altbausubstanz? Ich dachte immer, davon wäre ein guter Anteil im zweiten Weltkrieg zerstört...


    Nur ein kleines Gebiet am alten Hafen (Vieux Port) wurde von den deutschen Besatzern gesprengt. Ansonsten macht die Stadt einen nahezu komplett erhaltenen Eindruck. :daumen:



    @ Wagahai


    Es ging ja um die Nachkriegszeit und nicht um Heute.


    :confused: Ich verstehe nicht. Dass die Leute unmittelbar nach dem Krieg andere Sorgen hatten als einen originalgetreuen Wiederaufbau der Altstadt ist doch klar. Aber die modernen Büro-, Geschäfts- und Verkehrsbauten entstanden weitgehend außerhalb dieses Gebietes. Ein Wiederaufbau der Altstadt - falls gewollt - wäre deswegen heute immer noch möglich und stünde nicht in Konflikt mit der nach dem Krieg einsetzenden wirtschaftlichen und städtebaulichen Entwicklung der Stadt.



    Die Moderne im Positiven, wie im Negativen ist aber auch an Paris, Lyon und Marseille nicht vorbei gegangen.


    Die Moderne ist aber die Ausnahme, nicht die Regel. Die Altstädte sind nahezu geschlossen erhalten. Die Moderne entfaltet sich an der Peripherie und das nicht unbedingt im positiven Sinne (Banlieues). Nenne mir bitte ein "modernes" Stadtviertel in Deutschland oder Frankreich, dass in puncto Urbanität und Attraktivität mit den Altstadtgebieten mithalten kann. Ich bin gespannt. :)



    dass insbesondere Marseille bei Letzterem stark aufholen sollte. Die Nordseite des Vieux Port ist doch sehr einfallslos (gut, das ehemals quirlige Hafenviertel wurde wohl unter deutschem Kommando gesprengt).


    Eben. Genau dieser Teil der Stadt ist "modern". Wo konkret sollte also modernistische Architektur noch ihren Platz finden und v.a. wie?



    Wohnst Du gerne neben einer Erdölraffinerie?


    Ich sprach nicht von Industriearbeit, von der es in Deutschland sowieso immer weniger gibt. ;)



    Aus Experimenten und möglicher Weise aus Fehlern kann man lernen, im besten Fall Verbesserungen erreichen.


    Nein. Zu den städtebaulichen Sünden der 60/ 70er (ich meine nicht die unmittelbare Nachkriegszeit) müssen sich die Verantwortlichen bekennen. Es gibt Dinge, die sind nicht mit "Experimentierfreudigkeit" entschuldbar.



    Hör ich oft, aber was ist denn an München oder Berlin amerikanisch?


    Man hat Stadtgrundrisse verändert, mehr Verkehrsfläche geschaffen (bis hin zu Stadtautobahnen). Man hat Schlafstädte errichtet, man hat alte Bausubstanz zugunsten von Büro- und Geschäftskomplexen geopfert (bspw. Europa-Center). Anstatt auf Sanierung und behutsame Modernisierung zu setzen, hat man die ganze Stadtstruktur radikal auf den Kopf gestellt, was letztlich zu immensem Flächen- und Ressourcenverbrauch und einem Ausbluten und Verslummen einst lebendiger Stadtviertel geführt hat.

  • rec


    Ansonsten macht die Stadt einen nahezu komplett erhaltenen Eindruck.


    Dein Eindruck ist wohl etwas zu positiv, aber in der Gesamtschau finde ich Marseille und seine Altbausubstanz bemerkenswert, urban und aufregend. Dennoch: Die Rue de Belsunce unweit des Vieux Port mit seinen Beton HH-Scheiben sieht ziemlich übel aus. Unterhalb der (wunderbaren) Kathedrale Notre Dame de la Garde sollte man sich auch nicht verirren.


    Aber die modernen Büro-, Geschäfts- und Verkehrsbauten entstanden weitgehend außerhalb dieses Gebietes.


    Wie würdest Du denn die Gebäude in der Altstadt (Ausnahme: Römer) Frankfurts denn nennen?
    Außerdem wollte ich die Altstadt auch nur als ein Beispiel nennen. Ich weiß nicht, ob das Bankenviertel ohne die HHer, d.h. nur mit rekonstruierten Gründerzeitbauten die bemerkenswerte Büroraum-Konzentration ermöglicht hätte.
    Kurzum, ich denke, man hat natürlich in der Zerstörung auch eine Chance gesehen, großstädtische Infrastruktur neu zu strukturieren und zu verbessern, was wohl für die Wirtschaftwunderjahre in vielen Fällen schlichtweg nötig war.


    Ich habe aber das Gefühl, wir reden etwas aneinander vorbei. Du schlägst also vor, die Altstadt (weiter) zu rekonstruieren? Du wirst lachen, aber das fände ich eigentlich gar nicht schlecht, weil der Anteil an Altbausubstanz in Frankfurt tatsächlich etwas zu wünschen übrig lässt und viele Nachkriegsgebäude in der Altstadt nicht gerade ansehnlich sind.


    Worauf ich hinaus will: Eine Koexistenz von Alt und Neu, möglichst harmonisch. Reine Zweckbauten Marke Wiederaufbaujahre sollten verschwinden.


    Nenne mir bitte ein "modernes" Stadtviertel in Deutschland oder Frankreich, dass in puncto Urbanität und Attraktivität mit den Altstadtgebieten mithalten kann.


    Ach rec, mein Problem ist doch gerade, dass ich gute, moderne Architektur (von ganzen Vierteln müssen wir gar nicht reden) vermisse. Mich ärgert die Argumentation nach dem Motto: "Des hots bei uns no nie gebn". Für mich zeugt das von kulturellem Stillstand, der nicht gut sein kann für unser Land.
    Dennoch, ich sehe in Deutschland gute Ansätze am Potsdamer Platz und beim Stuttgart 21 Projekt (Fläche A1, jedenfalls die Visionen), in Frankreich kenne ich mich so gut dann auch nicht aus.


    Es gibt Dinge, die sind nicht mit "Experimentierfreudigkeit" entschuldbar.


    Sicher gab es Fehler, weil vielleicht zu sehr die Funktionalität in den Vordergrund gestellt, und weniger an den Menschen und zu schematisch gedacht wurde. Aber auch Du wirst nicht behaupten, dass alles in den 50er/60er/70er Quatsch war.


    Man hat Stadtgrundrisse verändert, mehr Verkehrsfläche geschaffen (bis hin zu Stadtautobahnen).
    Das war im Grundsatz nicht nötig? Ohne die wäre die Automobilbranche aber aufgeschmissen gewesen. ;)


    Man hat Schlafstädte errichtet, man hat alte Bausubstanz zugunsten von Büro- und Geschäftskomplexen geopfert (bspw. Europa-Center).


    Schlafstädte: Wie sonst hätten die Landflüchtigen u.a. denn in den Großstädten und Industriezentren untergebracht werden sollen?


    Anstatt auf Sanierung und behutsame Modernisierung zu setzen, hat man die ganze Stadtstruktur radikal auf den Kopf gestellt, was letztlich zu immensem Flächen- und Ressourcenverbrauch und einem Ausbluten und Verslummen einst lebendiger Stadtviertel geführt hat.


    Das ist mir etwas zu pauschal. Du solltest zu konkreten Fällen Alternativen aufzeigen, die realistischer Weise aus der Sicht von damals möglich gewesen wären.
    Verslummung hat doch nicht nur Ursachen im Städtebau.


    Dirk, Danke für den Link, den ich natürlich etwas einseitig finde. ;)


    Ich lese in der Summe heraus, dass hauptsächlich die großdimensionierten Strukturen und die Trennung der Funktionen/Räume als amerikanisch empfunden werden.
    Die europäischen Städte sind wohl etwas kleinteiliger und heimeliger ;) ausgelegt. Dennoch scheint mir das alles sehr vage und die Differenzierung nicht immer stichhaltig, aber vielleicht ist es spannend, diese Frage mit in die Diskussion aufzunehmen.

  • Also Kontraste brauche ich wirklich nicht... jedenfalls nicht direkte Kontraste.


    Finde die Lösung mit La Defense in Paris gut. Ein riesiges Gebiet außerhalb der histoirischen Stadt wo sich moderne Architekten mal richtig austoben durften.


    Für Deutschland wäre das doch auch was wenn man aus großen Industriebrachen oder Nachkriegswohnsiedlungen ein Mischgebiet macht, in dem Architekten mal zeigen können, was die drauf haben. Nur bitte kleinteilig damit man sich nicht erdrückt fühlt.

  • @ Wagahai


    Die Rue de Belsunce unweit des Vieux Port mit seinen Beton HH-Scheiben sieht ziemlich übel aus


    Meinst du Cours Belsunce?



    Unterhalb der (wunderbaren) Kathedrale Notre Dame de la Garde sollte man sich auch nicht verirren.


    :confused: Wegen der zwei, drei Wohnblöcke?



    Wie würdest Du denn die Gebäude in der Altstadt (Ausnahme: Römer) Frankfurts denn nennen?


    Entbehrlich. Viele Gebäude wie Technisches, Rathaus, Museum oder Schirn entstanden erst lange nach dem Krieg. Nicht wenige gelten heute als städtebauliche und architektonische Sünden. Für die Entwicklung der Stadt nach dem Krieg war dieses Areal sicher nicht von herausragender Bedeutung.



    Kurzum, ich denke, man hat natürlich in der Zerstörung auch eine Chance gesehen, großstädtische Infrastruktur neu zu strukturieren und zu verbessern, was wohl für die Wirtschaftwunderjahre in vielen Fällen schlichtweg nötig war.


    Ich sage ja nichts gegen neue Büro-/ Geschäftshäuser oder einen Ausbau der Infrastruktur. Nur hätte man hier - v.a. eben in den 60/70er Jahren - viel behutsamer und nicht mit der Keule vorgehen müssen. Leider wurde die Harmonie des Gesamtbildes zerstört, was sich bis heute negativ auswirkt.



    Worauf ich hinaus will: Eine Koexistenz von Alt und Neu, möglichst harmonisch. Reine Zweckbauten Marke Wiederaufbaujahre sollten verschwinden.


    Okay, Hand drauf?!;) Nichts anderes will ich auch, ich will nur mehr "Historie" in in den Stadtzentren, ein harmonischeres Gesamtgefüge (weniger Kontraste) und weniger belanglose Architektur.



    mein Problem ist doch gerade, dass ich gute, moderne Architektur (von ganzen Vierteln müssen wir gar nicht reden) vermisse


    Entschuldige, dann habe ich dich falsch verstanden. Ich dachte, es gäbe irgendwo leuchtende Vorbilder, die dir vorschweben. Ich finde es immer etwas schwierig sich über eine Sache zu unterhalten, die sich nicht konkretisieren lässt. Deshalb fragte ich.



    Dennoch, ich sehe in Deutschland gute Ansätze am Potsdamer Platz


    Finde ich eher besch...eiden. Geschmäcker halt. ;)



    Aber auch Du wirst nicht behaupten, dass alles in den 50er/60er/70er Quatsch war.


    Städtebaulich? Architektonisch? Fast alles!



    Das war im Grundsatz nicht nötig? Ohne die wäre die Automobilbranche aber aufgeschmissen gewesen.


    Im Ansatz ja, aber man völlig überzogen. Besser wäre es gewesen, in den ÖPNV zu investieren, was sich gerade bei verdichteten Stadträumen lohnt. Durch bspw. Stillegungen von Straßenbahnen und gleichzeitiger Suburbanisierung (Pendlerströme) war das Verkehrschaos vorprogrammiert.



    Das ist mir etwas zu pauschal. Du solltest zu konkreten Fällen Alternativen aufzeigen, die realistischer Weise aus der Sicht von damals möglich gewesen wären.


    Aufwertung von Altbauten durch Sanierung, Begrünung, Verkehrsberuhigung und stadtnahe Erschließung neuer Wohngebiete. Das gilt bis heute.

  • rec
    Meinst du Cours Belsunce?...Wegen der zwei, drei Wohnblöcke?
    Jo.
    Um den "Vieux Port": Rechts unten 3 Scheiben der Cours Belsunce, links oben Teil der "zwei, drei Wohnblöcke"

    Quelle:http://lphe1dell1.epfl.ch/~lhinz/marseille_pix/


    Rechts oben "Notre Dame de la Garde"

    Quelle:http://www.photo-marseille.com/vue-mer-8.html


    Besser wäre es gewesen, in den ÖPNV zu investieren, was sich gerade bei verdichteten Stadträumen lohnt. Durch bspw. Stillegungen von Straßenbahnen und gleichzeitiger Suburbanisierung (Pendlerströme) war das Verkehrschaos vorprogrammiert.


    Z.B. in Frankfurt ist doch der ÖPNV sehr gut ausgebaut.
    Trotzdem erstickt die Stadt im Autoverkehr. Nein, der Ausbau der Infrastruktur in und außerhalb von Großstädten hat mit der rasanten Wirtschaftsentwicklung /Vervielfachung des Handelsverkehrs/Pendlerverkehrs in den Nachkriegsjahren zu tun. Daher wären doch in der Summe (Ausnahmen gibt es) "Verkehrsberuhigung, Begrünung und stadtnahe Erschließung neuer Wohngebiete" romantisch, aber leicht abwegig gewesen.
    Heute gibt es möglicher Weise bessere Lösungen, aber hinterher ist man immer schlauer.


    Booni
    La Defense ist natürlich alles andere als kleinteilig.
    Ich bin nicht dagegen, dass Alt und Neu räumlich getrennt werden, meine aber auch nicht, dass es immer so sein muss.
    Wenn Kontraste so aussehen, dass schönes Altes gegen hässliches Neues steht, finde ich das auch nicht schick.

  • Die Erfahrung, die man leider machen muß, ist daß sich die Kritik am modernen Versuch eben doch auch auf Brachflächen bezieht wie z.B. bei Stuttgart 21.


    Die autogerechte Stadt ist im übrigen eine menschengerechte, solange Autos willenlose Objekte sind und von Menschen produziert, gekauft und eingesetzt werden.


    Schlafstädte? Gott wie schlimm. Die Menschen arbeiten also woanders als sie wohnen/schlafen. Normalerweise sind Wohnen und Gewerbe ohnehin getrennt. Das ergibt sich zum Teil aus den Knappheitsverhältnissen, gewachsenen Strukturen und Preisen. Weswegen sich diese Aufteilung fast auf der ganzen bekannten Welt durchgesetzt hat. Weswegen es sehr sinnvoll zu sein scheint.


    Falls es noch jemand nicht geschnallt hat. Die Zeiten der Großfamilie, die sobald sie das Geld zusammen hat in ein innerstädtisches Fachwerkhaus einzieht und in alter Zünftetradition nur dort wohnt wo sie arbeitet, sind vorbei.



    Leicht polemisch von mir, aber auf den wahren Kern kommt es an. Und der ist, daß es keine Nachfrage nach all dem gibt und deshalb keine Projekte. Nur der klamme Staat kann hin und wieder etwas dafür tun - idealerweise nachdem der effiziente Teil der Gesellschaft die entsprechenden Überschüsse erwirtschaftet hat, sonst droht Überschuldung.


    Jahrelang keine Nachfrage etwas für die o.g. Häuser an der Willy-Brandt-Straße zu tun, kein Geld für Berliner Stadtschloß, gerade mal das Geld für die Dresdner Frauenkirche zusammengekratzt - dank internationaler Symbolik und Kraftanstrengung.


    Was bleibt, ist dann eben die Kritik an dem was neu gebaut werden soll. Da bin ich @Wagahais Ansicht. Auch unsere Generation muß der Nachwelt etwas hinterlassen, zumindest versuchen, vielleicht wird es später gerner gesehen als heute.

  • Ab *90 abgetrennt von "Da Vinci"


    Ich habe diese Diskussion bislang nicht verfolgt, aber ich möchte mich an dieser Stelle für den Erhalt des Hotel Silber aussprechen. Nicht unbedingt aus seiner Funktion als Gedenkstätte heraus, sondern aus schlicht ästhetischen Gesichtspunkten. Die Stuttgarter Innenstadt ist derart arm an Vorkriegsarchitektur und reich an gesichtsloser Zweckarchitektur der letzten 60 Jahre, dass ein Abriss einem Sündenfall gleichkäme. Vielleicht wäre es angebracht, die Stuttgarter würden öfters mal nach München reisen, um den Charme einer wirklichen Innenstadt zu erleben. Was Stuttgart seinen Bürgern und Besuchern bietet, ist größtenteils absoluter Mist.

  • ..und wieder ein Vergleich mit dem ach so tollen München...
    Tschuldigung, aber wie lange soll das noch weiter gehen?
    Entweder Frankfurt oder Müchen...
    Stuggi ist Stuggi und alles was hier ist, ist halt so wie es ist.
    Ob des jetzt gut oder schlecht ist, sei erst mal dahin gestellt.
    Ob jetzt die Stadt durch den Erhalt des Hotel Silber an architektonischen Hinguckern beraubt wird oder nicht, sei mal noch viel mehr dahin gestellt.


    Die Stuttgarter City ist durch Neubauten der Nachkriegszeit geprägt, dass ist sicherlich wirklich nicht jedermanns Geschmack. Sich aber an einzelnen Altbauten plötzlich festzuhalten, die bis vor kurzem eh keinen Interessiert haben...
    Will nochmal darauf hinweisen, dass es in Stuttgart noch sehr viel Altbaubestände gibt, wenn gleich auch nicht in der City. Wie z.B. der gesammte Stuttgarter Westen, Bohnenviertel, S-Süd u.s.w...


    Hab den Eindruck es wird wieder alles schlecht geredet hier. Und nur Frankfurt und Münschen sind toll.
    Werden die Stuttgarter denn immer Minderwertigkeitskomplexe gegenüber ihren Nachbarn haben?


  • Hab den Eindruck es wird wieder alles schlecht geredet hier. Und nur Frankfurt und Münschen sind toll.
    Werden die Stuttgarter denn immer Minderwertigkeitskomplexe gegenüber ihren Nachbarn haben?


    Tja, ja .. ich hoffe auch, daß Stuttgart diesen Komplex bald ablegt, und dann die Sucht nach spektakulären Projekten aufhört, und einer maßvollen Aufwertungspolitik weicht.

  • ..und wieder ein Vergleich mit dem ach so tollen München...


    Tja, die Münchner haben nach dem Bombenkrieg eben die richtigen Entscheidungen getroffen. Aber in Stuttgart musste die Politik tabula rasa machen, allen voran der liebe Herr Klett, den man heute unverständlicher Weise immer noch ehrt... immer schön runter mit dem Stuck und weg mit dem alten Gerümpel für eine autogerechte Stadt.


    Und diese Geschichtsvergessenheit, dieser vermeintliche Blick "nach vorn" herrscht immer noch in dieser Stadt. Jetzt sind schon 90 % der Altstadt zerstört, dann können die restlichen 10 % sicher auch nicht mehr so wichtig sein, nicht!?


    Meiner Meinung nach sollten wir an Vorkriegsbebauuung erhalten, was wir erhalten können. Wenn der gesellschaftliche Wille besteht, sollte man sich auch zu Rekonstruktionen durchringen. Der Status qvo jedenfalls ist miserabel und was die "Moderne" zu leisten im Stande ist, haben wir ja die letzten 60 Jahre erlebt: faktisch nichts.

  • Ich kann Euren Wunsch nach mehr Erhalt von Altbestand durchaus verstehen!
    Komme selber ja ursprünglich aus einer restaurierten und rekonstruierten Weltkulturerbestadt ( Hansestadt Wismar ) und weiß nur zu gut, wie schön so etwas ist.
    Ich glaube auch dass die Meisten sich so etwas wünschen, eine historische Altstadt in der City, verbunden und integriert mit modernem Städtebau.
    Nun frage ich mich aber auch, wie kann man in Stuggi so etwas umsetzen?
    Als erstes ist schon mal festzustellen, wie Ihr ja auch schon geschrieben habt, dass in den Nachkriegsjahren nicht viel von der total demolierten City wieder aufgebaut wurde.
    Oder zumindest versucht wurde zu erhalten...
    Also müsste eine Rekonstruktionspolitik im Städtebau eingeführt werden.
    Wie kann mann jetzt diese Umsetzen?
    Ich glaube primär wäre nicht jeder Investor darauf scharf, alte kleine Häuser zu bauen, die dann keiner Mietet weil -> zu kleine Büro/Geschäftsflächen, oder auch Mietwohnungen, viel zu viel preislicher Aufwand bei astronomischen Bodenpreisen.
    Also benötigt mann Unmengen an Fördersummen, welche vom Bund mit Sicherheit nicht gegeben werden, weil man erkennen würde, dass es sich nicht lohnt in der Stuttgarter City, mit viel preislichem Aufwand kleine Fachwerkhäuschen zu bauen. Denn der Bedarf ist ein ganz anderer.. Sicher stehen viele Büroräume leer. Aber warum? Weil die Kunden es nicht einsehen für astronomische Mieten, einen unklimatiserten, alten, nach Muff riechenden Bürokomplex mieten zu müssen. Bsp.: KPMG in der Theo-Heuss-Straße. Bevor die in irgend welche alten Büroriegel einziehen, bauen sie lieber neu. Und zwar auf ihre eigenen Bedürftnisse zugeschnitten.


    Also halten wir fest. Der Bürger wünscht sich den Erhalt oder Rekonstruktion von Altbestand in seiner City, die Wirtschaft benötigt aber Büro- und Geschäftsräume, welche bei den hohen Bodenpreisen bestens auf sie zugeschnitten sind.
    Letztlich muss das Gebäude für den Investor aber auch Gewinn- bzw- Kostendeckend sein.


    Wie stellt ihr euch das vor?
    Mir fällt da nur eine Fassadenerhaltung ein!
    Das heisst, es wird alles was hinter der alten Fassade ist abgerissen und diese dann eben in den Neubau integriert. Das kann dann aber auch wieder jede Menge Unmut geben, weil viele es nicht leiden können wenn um ein kleines Fachwerkhäuschen eine Glasfassade gespannt wird.


    Es ist schwierig hier einen Konsenz zu finden.
    Wenn der Bürger sich den Erhalt nach Altsubstanz wünscht und die Wirtschaft aber ganz andere Bedürfnisse hat.
    Das unter einen Hut zu bringen ist eine Herausforderung.


    In Stuttgart hingegen wird sowieso grad nix auf den Weg der Mitte gebracht.
    Entweder werden Tipis gebaut und wir müssen alle zurück in dei Steinzeit oder es wird mit der politischen Druckkeule um sich gehauen um die Moderne durchzuprügeln.
    Aber konstruktiv reden tut hier keiner miteinander. Wie ich schon immer sage:


    Alle nur im Schwarz- und Weiß Denken

  • Es ist aus meiner Sicht ein Missverständnis, wenn man nur jenen Gebäuden eine Bedeutung fürs Stadtbild zubilligt, die architektonisch höchsten Maßstäben entsprechen - (wer definiert die überhaupt?) - und alles andere automatisch für potentiell entbehrlich erklärt. Gewiss: Kontraste können reizvoll sein; doch von Bewohnern wie Besuchern werden eben überwiegend jene Orte und Plätze als positiv und mit hoher Aufenthaltsqualität wahrgenommen, die Geschlossenheit und Harmonie vermitteln.


    Dazu ein Stuttgarter Beispiel: Direkt neben der Stiftskirche, an der Stiftsstraße beim Übergang Richtung Schillerplatz steht ein kleines, zweistockiges Geschäftshaus - ein schlichter Nachkriegsbau, völlig unspektakulär, bei dem man aber seinerzeit durch Ziegeldach und Sprossenfenster etwas Altstadt zu simulieren versucht hat.


    Gut möglich, dass dieses Gebäude kaum jemand bewusst wahrnimmt. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es vermisst werden würde, so bald es zugunsten eines - zeitgeschmäcklerisch beliebigen Neubaus (vielleicht - mal was Innovatives für Stuttgart: ein Glaskubus?) abgerissen werden würde. Warum? Weil es die kleine historische Insel rund um Schillerplatz und Stiftskirche einfach passend ergänzt. Beim "Hotel Silber" verhält es sich aus meiner Sicht ganz genauso.

  • Warum handhabt man es mit dem Hotel Silber nicht wie beim GAP Hochhaus in Düsseldorf? Ein zweites Hochhaus als Gegenstück zum Hofbräuhochhaus würde bestimmt gut aussehen. Platz für Büros wäre damit auch geschaffen....muss ja nicht so überdimensioniert sein!?


    http://de.wikipedia.org/wiki/GAP_15

  • @Manhatten
    Aber das wäre doch ein Hochhaus! Nichts fürchtet der Stuttgarter Schwabe so sehr, wie das Hochhaus. Und dann noch neben dem Hotel Silber?! Ich sehe schon die nächste Apolkalypse auf uns zukommen...


    Carina
    Irgendwie werde ich nicht ganz schlau aus deiner Argumentation. Einerseits schreibst du, dass man nicht nur architektonisch höchstwertigen Gebäuden eine Bedeutung für das Stadtbild zusprechen darf, aber andererseits verweigerst du diese Bedeutung scheinbar allen Gebäuden, die vor dem Jahr annodazumal gebaut worden sind.


    Stuttgart wurde im zweiten Weltkrieg absolut verwüstet, insbesondere die Innenstadt. In meinen Augen ist die historische Architektur mit diesem tiefen Einschnitt quasi beendet. Man kann darüber schimpfen, dass andere Städte klüger gehandelt haben, aber der Zug ist vor Jahrzehnten abgefahren. Ja, es gibt richtig viele und richtig hübsche Städte, die wunderbar aussehen mit ihren alten, prächtigen Gebäuden. Stuttgart ist aber zumindest in der City eben nicht mehr so eine Stadt. Punkt.


    Diesem Verlust mag man nachtrauern, aber gerade wegen dem obigen Punkt empfehle ich jedem, der sich nach einer komplett historischen Stadtarchitektur sehnt, dem Umzug in eine solche Stadt. Denn was soll das denn bringen, wenn man ab dem Jahr 2011 damit anfängt, irgendwelche kitschigen Imitate aus den scheinbar guten alten Zeiten hinzustellen? Mir scheint in dieser ablehnenden Haltung schon fast eine Verweigerung gegenüber der modernen Zeit an sich zu sein. Alles Moderne ist schlecht und böse und kapitalistisch sowieso.


    Und wer allen Ernstes glaubt, die moderne Architektur bringe nichts zustande, der möge doch bitte mal zum Wittwer oder Hugendubel gehen und sich ein paar Bücher über moderne Architektur besorgen. Dann sprechen wir weiter.

  • ^ Das Problem ist, du schließt aus dem jetzigen Zustand die falschen Schlüsse. Jeder Zustand ist veränderbar, wenn man es nur will. Natürlich - keiner kann die alten Zeiten zurückholen, das will auch keiner. Aber man kann der Stadt durchaus ihre Identität zurückgeben, die sie an vielen Stellen verloren hat. Ich sehe überhaupt nichts Verwerfliches daran, die Fachwerkhäuser des Marktplatzes oder das Vordergebäude des Rathauses wieder im ursprünglichen Stil zu errichten. Andere Städte taten dies gleich nach dem Krieg, andere setzten auf Zwischenlösungen, von denen sie sich nach einigen Jahren wieder sehr schnell kurierten. Als Beispiel sei an dieser Stelle nur das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim angeführt. Wer den jetzigen Zustand in Stuttgart als befriedigend ansieht, lässt sehr tief bezüglich seiner ästhetischen Ansprüche blicken...


    Also nochmals, es ist keine Frage des Könnens, es ist nur eine Frage des Wollens. Was in Frankfurt, München, Dresden oder Warschau möglich war, soll in Suttgart nicht gehen? Absurd. Und noch etwas: ja es gibt auf der Welt wirklich gelungene Zeugnisse der modernen Architektur. Aber das sind Leuchtürme, die vereinzelt herausstechen. Bezeichnenderweise finden sich diese Gebäude oftmals in einem geschlossenen historischen Umfeld, das diesen Kontrast durchaus verkraften kann. Aber eine wirklich identitätsstiftende Allzweckarchitektur, die auch im Kleinen wirkt, und darauf kommt es in Wirklichkeit an, finden wir in der Moderne selten bis gar nicht. Im Gegenzug möchte ich jedem kompromisslosen Verfechter einen Umzug nach Brasilia empfehlen, dort dürfte er sich dann so richtig wohlfühlen. Die historisch gewachsene deutsche Stadt ist der falsche Ort, um weiterhin experimentell diese Radikalitäten auszuleben.

  • In anderen Worten: Früher war alles besser.


    Es zeugt für mich von wenig Selbstbewusstsein, wenn immer auf ausgelutschte Ideen anderer zurück gegriffen werden muss, wenn einem nichts einfällt. Rühmt sich BW nicht, Land der Ideen und Innovationen zu sein? Ein eher peinliches Munich light oder Warschau 2.0 brauche ich nicht.


    Der allseits berüchtigte, rückwärtsgewandte Kleinstadtwahn in Stuttgart trägt im Fall von Da Vinci natürlich besonders seltsame Früchte. Da wird ein städtebaulich sinnvolles und mühsam finanziertes Projekt samt Wettbewerbsverfahren, bei dem das einzige weltberühmte Stuttgarter Architekturbüro Behnisch einen guten Siegerentwurf abgeliefert hat, wegen eines architektonisch höchstens mittelmäßigen Billigneubaus aus den 50ern verhindert. Besonderes Bonbon: Am Ende behalten wir das wunderschöne 50er-Innenministerium-Möck-Betonbunker-Ensemble, das natürlich zu Markthalle und Waisenhaus ganz hervorragend passt. Halleluja, Grün/Ostertag sei dank: Der Charlottenplatz bleibt Weltkulturerbe-verdächtig, Stuttgart steht wieder einmal mit leeren Händen da.

  • In anderen Worten: Früher war alles besser


    Ganz richtig. Nicht immer, aber meistens. Mir gefällt in Stuttgart das Alte und Neue Schloss, der Königsbau (vorderer Teil), der Schillerplatz, die Gebäude um den Hans-im-Glück-Brunnen, mir gefällt NICHT der Marktplatz, der vordere Teil des Rathauses, die WLB, weite Teile der Königstraße. Dies alles nur beispielhaft.


    Replikate haben auch überhaupt nichts mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun, sondern vielmehr mit einem ausgeprägten und bewussten Verhältnis des Bürgers zur eigenen Stadt. Dass die Moderne ein derart schlechtes Image hat, darf sie sich getrost selbst zuschreiben. Es hilft ihr nicht zu mehr Ruhm, nur weil sie gelegentlich ganz Passables abwirft. Die Massentauglichkeit fehlt.


    Es geht hier auch nicht um eine komplette Ablehnung moderner Funktionsarchitektur, es geht vielmehr um den Standort. Auf dem Pragsattel, auf dem Killesberg können sie von mir aus bauen was Glas, Stahl und Beton alles hergeben. Aber nicht in der Innenstadt. Und über Behnisch kann jeder denken was er will. Ich sag nur Bundestag in Bonn... :nono: